Auf dem Heinrich-Heine-Wanderweg auf
  den Brocken/Harz - und wieder zurück:
  Unterwegs im Waldsterben 2.0

Wander-Reisebericht über eine Wanderung von Ilsenburg auf den Gipfel des Brocken im Harz im September 2020
   mit insgesamt 69 Bildern




Blick zum Brockengipfel

Blick zum Gipfel des höchsten Berg des Harzes, dem Brocken, ein paar hundert Meter Wegstrecke vom Gipfel des 1141 m hohen Berges entfernt.

 

 

Als ich auf dem Gipfel des Brockens ankomme, ist mir längst zum Heulen zumute.

Ja, wirklich: Heulen könnte ich!

Nicht unbedingt vor lauter Glück und Rührung, dass ich aller gesundheitlichen Haken und Ösen der letzten Jahre zum Trotz mal wieder auf einen Berggipfel gewandert bin - auch wenn es eben nur der Brocken ist.

Auch muss ich nicht gerade heulen, weil es hier oben so überwältigend und betörend schön ist. Ist es nämlich gar nicht wirklich.

Heulen muss ich auch nicht gerade wegen der Schmerzen, die mir die Blase unter meinem Fuß bereitet - die hatte ich mir dusseligerweise schon vor ein paar Tagen noch im heimatlichen Hamburg gelaufen und ich merke sie den ganzen Tag über schon.

 

Der Harz - großflächig toter Wald

Nein - all das ist es nicht, was mich hier fast zum heulen bringen könnte. Es ist eher der Schock, das Entsetzen, ja - das Grauen, das mich gepackt hat auf dem Weg hier hinauf.

Meine Erkenntnis des Weges: Der Harz, er ist ziemlich großflächig bereits abgestorben! Sterbende Bäume sieht man zeitweilig kaum noch, ab einer gewissen Höhe sind alle älteren Bäume bereits tot.

tote Fichten auf dem Weg zum Brocken

Auf dem Weg zum Brocken begegnet mal immer wieder abgestorbenen Bäumen, die, wie hier, verblüffend oft durch junge Fichten ersetzt werden.

Und mich schockiert das! Und das heftiger, als vermutet. Diese Bilder der beinahe schon "Verwüstung" im Wortsinne, sie ergreifen mich tief.

Na klar, das ist alles nicht neu! Na klar, immer wieder sieht man in den Medien Berichte von den Waldschäden auf den Höhenzügen, in den Mittelgebirgen Deutschlands. Na klar - das weiß man alles!

Aber das persönliche Erleben ist dann doch eine ganz andere Nummer. Wenn ich jetzt hier stundenlang durch den so oft schon gar nicht mehr sterbenden, sondern durch toten Wald laufe, dann kann zumindest ich das nicht mehr ignorieren. Tja, und dann packt mich halt das Grauen... Mit unerwarteter Wucht! So heftig habe ich das wirklich nicht erwartet.

Waldsterben gibt es hier im Harz in mittleren Höhen also kaum noch. Und das genau dort, wo man mal wegen wirtschaftlicher Erwägungen, wegen der Gewinnoptimierung, in früheren Zeiten schnellwachsenden Nadelwald hochgezogen hat. Von wegen also... Gewinnoptimierung. Mit dem toten Holz ist weiter kein Staat mehr zu machen - also kein Geld. Mir fährt das gehörig in die Knochen.

 

Aufenthalt in Ilsenburg

In den Corona-Zeiten des Spätsommers 2020 sind schon drei Wochen meines Jahresurlaubs weitestgehend ereignislos verstrichen (wenn ich mal von ein paar verregneten Tagen an der Nordsee absehe), als plötzlich und endlich richtig gutes Wetter angekündigt wird. Meine Lust, trotz der Corona-Pandemie und einer daraus resultierenden bedrohlichen persönlichen Situation trotzdem noch etwas anderes als immer nur meine eigenen vier Wände zu sehen, ist riesig. Gesundheitsbedingt ist es schließlich schon fast zwei Jahre her, dass ich überhaupt mal verreist bin. Und reisen ist ja durchaus eines meiner verbliebenen Lebenselixiere.

Allerdings: In Norddeutschland eine Unterkunft zu finden, wenn schönes Wetter angekündigt ist, ist während der Corona-Pandemie eher Glückssache. Meeresküsten oder die Inseln? Längst ausgebucht - zumindest das, was für mich auch mit größeren Schmerzen irgendwie bezahlbar ist. Elbtalaue? Ausgebucht! Müritz? Hm, schwierig für Nicht-Autofahrer, ansonsten ausgebucht. Also lande ich am Harz.

Eigentlich ist meine Idee, einige Tage nach Wernigerode zu fahren. Aber - Wernigerode? Ausgebucht! So kurzfristig jedenfalls. Als mir dann die Radtour von vor einigen Jahren auf dem Europa-Radweg R1 am Nordrand des Harzes entlang in den Sinn kommt, fällt mir wieder der Ort Ilsenburg ein. Dort fanden meine damalige Begleitung und ich es sehr schön und angenehm: Kein Touristentrubel, ein hübscher Ort in schöner Lage. Warum also nicht Ilsenburg?

Eine ausgesprochen gute Idee! Eine erschwingliche Unterkunft finde ich tatsächlich umgehend. Und der Ort ist so, wie erinnert und wie gewünscht. Mit seinen insgesamt knapp 10.000 Einwohnern, davon gut 6.000 im inneren Stadtgebiet, ist Ilsenburg in der Tat überschaubar. Die Stadt liegt an dem Fluss mit dem Namen - welche Überraschung: Ilse, der unweit des Brockengipfels entspringt. Auf allzu viel Tourismus ist Ilsenburg gar nicht eingestellt. Es gibt keine Bettenburgen. Gut für mich! Denn: Richtige Tourismus-Rummelplätze sind nicht so mein Fall. In Ilsenburg fühle ich mich also wohl - hier bin ich genau richtig! Meine Unterkunft am Bahnhof befindet sich auf 273 m über NN.

Die nach der Wende doch noch recht umfangreich hier verbliebene Metallindustrie im nördlichen Stadtbereich ignoriere ich einfach. Ebenso das Wissen um die noch aus der DDR-Zeit verbliebene Schwermetallbelastung in der Stadt.

Immerhin gibt es so einiges an Wanderwegen in und um Ilsenburg - und es wird höchste Zeit, dass ich mir die Beine mal wieder ein wenig vertrete. Eine gute Handvoll Tage Zeit habe ich noch, bevor die Arbeit daheim wieder beginnt.

Ilsenburg, Blick durch die Hochofenstraße zum Brocken

Kaum habe ich meine Unterkunft in Ilsenburg nach meiner Anreise vielleicht gerade mal 200 m für den ersten Eindruck der Stadt verlassen, habe ich diesen Blick direkt zum Brocken - und weiß sofort: Da musst Du rauf! Ist ja nicht sonderlich steil!
Diese Straße hier heißt übrigens nicht "Brockenblick" oder ähnlich, sondern "Hochofenstraße" -  das lässt darauf schließen, wovon man in Ilsenburg und am Nordrand des Harzes allgemein lange Zeit gelebt hat: Metallindustrie.

Ilsenburg, Buchbergstraße

Blick durch die Buchbergstraße auf dem Weg zum Ilsetal.

 

Auf dem Weg in Richtung Brocken

Eigentlich hat der Tag heute prima begonnen. Ein makellos blauer Himmel hat mich beizeiten auf die Beine gebracht. Zwar reicht der Elan zunächst nur bis zu einem Bäcker, bei dem ich mein morgendliches Urlaubsritual mit belegtem Brötchen und Kaffee und ein wenig Informationen über das Weltgeschehen vollziehe.

Erst gegen 10 Uhr rappele ich mich von dort dann auf in Richtung Brocken. Dafür geht es erstmal durch den Ort, dann hinein in das Ilsetal. Noch im Ort werde ich mittels einer Informationstafel auf die Waldbrandgefahr Stufe 4 (von 5 möglichen) hingewiesen: Hohe Waldbrandgefahr. Nun gut - ich gehe trotzdem hinein in den Wald.

Ilsenburg, Waldbrandgefahr Stufe 4

Achtung! Waldbrandgefahr Stufe 4, und: "...verhalten Sie sich angemessen" - das Schild kann mich noch nicht sonderlich schrecken.

 

 

 

Den gibt es hier in den tieferen Regionen des Harzes nämlich noch - und das auch üppig und richtig schön. Bald schon bin ich am südlichen Ortsrand von Ilsenburg, am "Blochhauer". Das ist sozusagen der zentrale Wanderpunkt in Ilsenburg, von dem viele Wanderwege ausgehen. Entlang des unteren Verlaufs der Ilse läuft man dann durch schattigen Wald: Der Laubwald hier ist noch weitgehend in Ordnung.

 

Auf dem Heinrich-Heine-Wanderweg: Schönes Ilsetal

Am "Blochhauer" findet man neben einem Spielplatz für die Kleinen alle Infos, die man als Wanderer so braucht: Übersichtskarten, Beschilderungen, Markierungen. Selbst unerfahrene Wandersleute (wozu ich mich selber durchaus zähle) sollten sich hier leicht zurecht finden. Prompt wird man auch von Infotafeln empfangen: Der "Heinrich-Heine-Wanderweg" beginnt hier und wird auch im weiteren Verlauf immer wieder begleitet von speziellen Informationen zum Wanderweg. Hinzu kommen auf dem Weg immer wieder übersichtliche Infotafeln eines Naturlehrpfads. So etwas mag ich.

 

 

 

Die Ilse ist hier ein kleiner, etwas verwunschener, wilder Fluss. Der Heinrich-Heine-Weg führt in diesem Bereich direkt am Ufer entlang. Das Tal ist teilweise recht tief eingeschnitten in die Umgebung, auch wenn man nicht gerade an steilen Hängen entlang läuft. Alles wirkt hier so, wie man sich den Harz im Bilderbuch so vorstellt. Und es bringt Freude, dem Weg zu folgen. Der hat hier um Unteren Ilsetal eher die Form eines breiten Spazierwegs. Im weiteren Verlauf geht es dann immer mal wieder über ein paar steinige und auch mal matschige Abschnitte - aber man kann hier insgesamt schön und bequem wandern.

Ilsenburg, im Ilsetal

Die Ilse fließt als kleiner, wilder Fluss durch den im unteren Ilsetal noch sehr schattigen Harz.

Matschiger Wanderweg

... was sich allerdings im weiteren Verlauf des Weges immer wieder mal ändert: Zuweilen geht es dann über Steine und/oder Matsch.

 

 

 

Allzu viele Leute sind hier nicht unterwegs. Ich laufe hier halt so "für mich" in Ruhe durch den Wald. Eine Folge davon, dass ich durch den Wald laufe: Ich sehe halt nichts anderes - außer dem Fluss und außer Bäumen. Ich mag es ja gerne, den Blick zumindest hin und wieder mal in die Weite schweifen zu lassen - aber auf so einen Panoramablick habe ich hier im Wald natürlich keine Chance. Der Wald ist hier schön, die Temperatur sehr angenehm. Es wird zwar ein sehr heißer Tag - aber der Wald tut hier, was er halt so tut: Er sorgt für Schatten, Verdunstungkühle. Für eine ausgesprochen angenehme Umgebung.

Das ist schon fast ein wenig erstaunlich, denn wenn ich jetzt hier, nach rund 70-80 Minuten Weg, durch die Bäume in der direkten Umgebung der Ilse hindurchluge, dann scheint dort eine pralle Sonne. Und ich sehe ziemlich viele kahle Bäume, die fast an Telegrafenmasten erinnern. Noch kann ich diese ganz gut ignorieren, hinter dem Grün des Laubwaldes. Aber bald schon wird mir bewusst: Die Welt jenseits des feuchten, belaubten Ilsetals ist nicht in Ordnung. Ganz und gar nicht in Ordnung!

 

Hinter den Ilsefällen: Der Wald wird lichter, immer lichter...

Die Ilsefälle - ein Bereich, wo das Wasser auf dem felsigen Untergrund Mühe hat, sich ein kontinuierliches Bett zu graben. So richtig spektakuläre Wasserfälle sollte man nicht erwarten - aber schon ein paar eindrucksvolle Stromschnellen. Ein schönes Fleckchen Erde! Und eigentlich für sich schon eine kleine Wanderung wert. Dass man dabei dann in diesem Gebiet auch mal durch etwas Matsch muss - was soll's?

Untere Ilsefälle

An den "Unteren Ilsefällen" zwängt sich der kleine Fluss durch ein felsiges Flussbett hindurch.

 

 

 

Allerspätestens an den unteren Ilsefällen allerdings kann man das Drama in der Umgebung kaum noch ignorieren. Dabei ist auch ein Schild hilfreich, das die Nationalpark-verwaltung Harz hier und an zahlreichen anderen Stellen aufgehängt hat: "Auf diesem Weg bestehen in besonderem Maße Gefährdungen durch absterbende Bäume. Falls Sie diesen Weg trotz Warnung benutzen, geschieht dies auf eigene Gefahr. Die Nationalparkverwaltung Harz übernimmt für mögliche Schäden infolge der Waldbeschaffenheit, insbesondere durch herabfallende Äste oder umstürzende Bäume, keine Haftung."

Hoppla - da ist ja alles beim Namen genannt!

Aber, nur am Rande vermerkt: Gibt es überhaupt irgendetwas im Leben, was man nicht "auf eigene Gefahr" tut und wofür irgendjemand anderes die Haftung übernehmen könnte?

Warnschild, Gefährdung durch absterbende Bäume

An etlichen Orten Im Harz begegnet man Warnschildern vor Gefahren durch die absterbenden Bäume.

 

 

 

Spätestens jetzt werden wohl auch unbedarfte Wandersleute mal in die Runde schauen. Wer will schließlich schon von einem Baum oder auch nur einem Ast erschlagen werden? Und wenn man in die Runde schaut, dann muss man schon ganz schön cool sein, wenn einen der Anblick nicht erschüttert.

Eine Viertelstunde später, an den "oberen Ilsefällen", ist es dann fast ganz vorbei mit dem grünen Wald. Man mag sich ja vielleicht darüber freuen, dass die Ilsefälle hier schön in der Sonne liegen. Aber das Drama am Rande ist für mich mittlerweile viel beeindruckender, als die Ilsefälle. Hier stehe ich ja plötzlich genau vor dem, wovor ich mich in den 80er Jahren gesorgt habe: Totem Fichtenwald. Rundum. Zum Teil sind die Stengel schon abgeerntet und in die entstandene Steppe hat man hier einige frische Bäume angepflanzt - immerhin!

 

 

 

Wie schreibt doch der "Nationalpark Harz" in einem Informationsblatt zum Thema "Wald im Wandel zur neuen Wildnis": "Getreu dem Nationalpark-Motto 'Natur Natur sein lassen' darf sich die Natur in großen Teilen des Nationalparks frei entfalten und wir haben die einmalige Gelegenheit, sie auf ihrem Weg vom ehemaligen Nutzwald zum wilden Naturwald zu beobachten."

Tatsächlich - diese Gelegenheit habe ich hier gerade. Aber, meine Güte - ich sehe vor allem eine Art Steppe, mit ein paar kleinen Bäumchen. Der Weg zum Naturwald wird viele Jahrzehnte brauchen. Ich jedenfalls werde das hier nicht mehr erleben... Lange Zeit wird es hier kahl und karg sein. Ich finde das deprimierend!

 

An der "Roten Brücke"

Kein Zweifel: Heinrich Heine hat das hier bei seinem Aufstieg anders erlebt! Immerhin komme ich auf dem nach ihm benannten Weg jetzt in völlig lichte Gegenden. Teilweise hat man dichten Wald neu angepflanzt. Sicherlich muss das so sein - sonst macht Erosion dem Gebiet wohl den Garaus. Überrascht bin ich darüber, dass ich auf große Flächen recht jungen Fichtenwälder schaue. Passt das etwa zu dem Anliegen der Nationalparkverwaltung? Oder steht da der Nutzen dann wohl doch wieder im Vordergrund? Sehr komisch!

Heinrich-Heine-Wanderweg, Rote Brücke

An der Roten Brücke auf dem Heinrich-Heine-Wanderweg: Die Beschilderung des Weges ist perfekt. Der Wald ist dies leider nicht so wirklich.

 

 

 

Am markierten Punkt des Heinrich-Heine-Wanderwegs, der "Roten Brücke", gibt es keinerlei Schatten mehr, fast nur noch kleine Bäumchen und ein paar vor sich hin siechende größere Bäume. Bis hierhin bin ich, vom Bäcker aus gestartet, zwei Stunden, zehn Minuten bzw. 6,8 km mit gerade mal 270 Höhenmetern unterwegs. Aber es gibt einen großartigen Blick auf das Ziel meiner Wanderung: Den Gipfel des Brocken. Die Beschilderung zeigt noch 5,8 km bis zum Gipfel. Aber optisch habe ich fast das Gefühl, ihm seit dem Start in Ilsenburg noch gar nicht so richtig näher gekommen zu sein. Also weiter. Es dürfte jetzt ja mal ein wenig zügiger bergan gehen.

Die Ilse, also den Fluss, verlässt man hier. Es geht auch hier meistens auf breiten Spazierwegen weiter. Zumeist durch recht jungen Nadelwald, durchmischt von Baumleichen.

 

 

 

Nicht bedacht habe ich heute morgen, dass ich also über eine lange, lange Zeit in schattenloser Umgebung unterwegs bin. Da ist es, obwohl es ja bereits Mitte September ist, eine dumme Nachlässigkeit, ohne Sonnenschutz unterwegs zu sein... Immerhin komme ich noch (auf der "Hermannschaussee") durch ein Gebiet mit wohl 20-30 Jahre alten Fichten. Diese sind noch nicht so richtig verstorben und werfen noch Schatten. Immerhin! Aber langweilig ist der Weg.

Hermannschaussee, Schutzhütte Stempelsbuche

Blick in den Weg, der den Namen "Hermannschaussee" trägt, mit der Schutzhütte "Stempelsbuche".

 

 

 

Trotz allem: Es geht weiter auf dem Weg. Der mit immer weniger gefällt. Eigentlich laufe ich hier mitten durch ein ökologisches Katastrophen-gebiet - ich entwickle mehr und mehr eine Art "Tunnelblick" für die geschädigten Bäume. Furchtbar! Nun, an sich will ich hier ja nur wandern - jetzt bin ich hier ganz unversehens zu einer Art Katastrophentourist geworden. Und, meine Güte, ganz unvermutet kommen da bei mir da jede Menge alte Erinnerungen hoch. Waldsterben - da war doch mal was...?

 

Oh Schreck: Blick von der Hermannsklippe

Folgt man der "Hermannschaussee" kommt man nach einiger Zeit zu einem Aussichtspunkt: Den "Hermannsklippen". Ich freue mich richtig darauf, mal in die Runde schauen zu können.

Allzu lange hält meine Begeisterung aber nicht an. Es mag ja sein, dass mein eigener Blick auf diesem Weg mittlerweile nur noch eindimensional ist. Aber als ich mich nun auf die Felsen stelle, muss ich mich schon anstrengen, um außer den paar Bäumen in der direkten Umgebung überhaupt noch Grün zu entdecken. Der Harz, hier in den mittleren Höhen, er ist mit all seinen Fichten nur noch braun.

Nach zwei Minuten gehe ich da lieber weiter...

 

Dieser Betonplattenweg! Dieser blöde Betonplattenweg...

2,8 km bis zum Brocken - weist das Wanderschild hier an den Hermannsklippen aus. Na, das ist ja nicht mehr weit. Da kann ich den Weg ja entspannt fortsetzen, denke ich jedenfalls.

Der Weg schlägt eine scharfe Kurve - und ändert sich dann dramatisch. Den DDR-Grenztruppen, die auf dem Brocken umfangreiche Anlagen hatten, sei Dank: Es geht weiter auf einem Betonplattenweg. Aber halt nicht "nur so" auf Betonplatten, nein - wahrscheinlich, um Material zu sparen, oder um das Versickern von Regenwasser zu begünstigen, oder warum auch immer, sind jede Menge Aussparungen in den Betonplatten. "Hirtenweg" wird dieser Teil des Heinrich-Heine-Wanderweges genannt. Zumindest die Beton-Befestigung ist allerdings den DDR-Grenzern zu verdanken - ob man diese Grenzer nun allerdings als "Hirten" ansehen sollte, lasse ich mal dahingestellt.

Und das ist einfach blöde zu laufen! Diese Löcher in dem Beton sorgen dafür, dass man doch recht konzentriert auf den Weg schauen muss. Solange man keine Bergsteigerstiefel mit starrer Sohle trägt, ist es nicht allzu angenehm, auf die Kanten dieser Löcher zu treten. Auch läuft es sich direkt am Rand auch nicht gerade gut und man muss recht aufmerksam sein. Dieser Betonplattenweg ist einfach nicht schön zu laufen - nervig, finde ich.

Betonplattenweg zum Brocken

Der durchlöcherte Betonplattenweg hinauf zum Brocken: Wirklich blöde zu laufen!

 

 

 

Nach einiger Zeit lichten sich die zuvor noch etwas Schatten spendenden 10-15 Jahre alten Fichten zusehends. Ist es nicht komisch, dass hier überall reine Fichtenkulturen wachsen? Irgendwo auf einer Infotafel lese ich, dass es hier oben feucht genug sei, dass hier Fichten wachsen können. Dagegen spricht wohl, dass ein erheblicher Teil, vielleicht ein Viertel, dieser jungen, eigentlich ja kraftstrotzenden Bäume auch schon braun und tot sind.

Immerhin: Durch den lockeren Bewuchs gibt es vermehrt die Möglichkeit, den Blick etwas in die Ferne schweifen zu lassen. Weit über den braunen Harz hinaus reicht der Blick allerdings auch nicht, dazu ist es zu diesig.

 

 

 

Die Septembersonne brennt erstaunlich stark, ein paar andere Wanderer sind auch noch in Sichtweite unterwegs, einige scheinen an das Ende ihrer Kräfte zu kommen. Hin und wieder kommt ein Mountainbiker heruntergerollt - auf diesem Betonweg immer mit höchster Konzentration, um sich auf dieser teilweise unregelmäßig verlegten Löcherpiste nicht einen Reifen an einem der Löcher platt zu fahren.

Ach ja, diese Radler schaue ich immer ein wenig aufgewühlt an. Eigentlich ist es von mir ein jahrelanger Wunsch gewesen, mit meinem Rennrad mal auf den Brocken hinauf zu fahren, dem immerhin höchsten Berg Norddeutschlands. Mit dem Rennrad - dann auf der Asphaltpiste von Schierke aus. Aber dieser Wunsch hat sich mittlerweile aus gesundheitlichen Gründen erledigt, also laufe ich halt jetzt etwas stoisch hier hoch und schaue den paar Radfahrern mit einer Mischung aus Neid und Traurigkeit hinterher...

 

Der "Kleine Brocken"

Irgendwann passiere ich ein kleines Schild am Wegesrand: "1000 m ü. NHN", auch auf dem Betonweg hat jemand mit weißer Farbe gepinselt, dass man hier die 1.000-m-Höhenmarke überschreitet. Immerhin!

Weg zum Brocken, 1000 m Höhe

Nicht zu übersehen: 1.000 Meter über Normalnull sind erreicht.

 

 

 

Ohne, dass ich das als etwas besonderes wahrnehme, mache ich eine kurze Pause auf dem "Kleinen Brocken" (1018 m). Dort gibt es eine kleine Bank mit Tisch, die gerade frei sind. Als etwas besonderes nehme ich dies gar nicht wahr, eigentlich sehe ich dies nur als kleine Lichtung, einen kleinen Buckel, auf dem Weg zum Brockengipfel an. Erst später lese ich: Auch der "Kleine Brocken", dieser Buckel am Rande, wird als eigener Gipfel angesehen. Nun gut - dann ist es eben sogar so, dass ich mit diesem Spaziergang heute zwei norddeutsche Gipfel über 1.000 bezwingen werde...

Blick vom Kleinen Brocken zum großen Brocken

Allzu weit ist es jetzt nicht mehr: Blick vom Kleinen Brocken zum "großen" Brocken.

 

 

 

Jetzt ist es auf diesem blöden Betonplattenweg nicht mehr weit bis zum Gipfel des "richtigen" Brocken. Mittlerweile bin ich so genervt von dem löchrigen Betonplatten-weg, dass ich mir geschworen habe: DEN gehst Du nicht wieder runter! Entweder fährst Du mit diesem Dampflokomotiven-Zug (der "Brockenbahn") hinunter nach Wernigerode. Oder Du gehst die Asphaltstrecke nach Schierke. Oder was auch immer, ich weiß über andere Wege gar nichts, habe keine Karte dabei - aber DIESEN Weg zurück nimmst Du nicht!

Der Brockengipfel mit seiner riesigen Antennenanlage und den Gebäuden sieht jetzt bereits zum Greifen nah aus, aber doch sind es immerhin noch rund 120 Höhenmeter bis dort hinauf. Der Blick ins Umland ändert sich derweilen kaum: Alles, was etwas weiter entfernt ist, verschwindet im Dunst, die nähere Umgebung ist für mich immer noch erschreckend braun. Immerhin bin ich hier an der Baumgrenze unterwegs, dem einzigen deutschen Mittelgebirge, das an die Baumgrenze reicht. Die wird zum immer kühleren Norden hin ja immer niedriger. Auch das erklärt die vielen kleinen Bäume. Aber doch: Meine Losung früherer Tage, "nichts ist so schön, wie eine selbstverdiente Aussicht", sie stimmt hier und heute nicht so richtig. Mein Blick ist mittlerweile tatsächlich im Tunnel gelandet und schaut vor allem auf die braunen Bäume.

 

Auf dem Gipfel des Brocken in 1141 m Höhe

Kurz vor dem Gipfel geht es über die Bahngleise der Brockenbahn - ich habe die Bahn in den letzten Stunden immer wieder gehört, wenn sie vor irgendwelchen Übergängen laut getutet hat. Jetzt gerade kommt sie hier nicht vorbei - eigentlich ja auch schade.

 

 

 

Je näher ich zum Gipfel komme, umso mehr Menschen begegnen mir. Wo kommen die bloß alle her? Soo viele habe ich ja gar nicht hier hinauflaufen sehen. Aber es gibt ja einige verschiedene Möglichkeiten, auf den Brocken zu kommen. Und wie viele Leute von der Bahn hier hinaufgebracht werden, vermag ich gerade noch nicht abzuschätzen. Die meisten der Spaziergänger hier sehen jedoch völlig entspannt aus, so dass es mir schwerfällt, mir vorzustellen, dass sie hier auch ganz hinauf spaziert sind.

Für den Weg hier hinauf habe ich, mit zahlreichen Fotostopps, allerdings ohne sonderlich große Pausen, immerhin drei Stunden und 56 Minuten gebraucht - wenn ich als Startpunkt mal die Bäckerei in Ilsenburg ansehe. Immerhin 13,1 km Wegstrecke bin ich dabei bis jetzt gelaufen und habe dabei 862 Höhenmeter genommen. Und, okay: Ich bin, was Wandern anbelangt, zuletzt auch völlig untrainiert - auf ein paar Selfies sehe ich doch viel angestrengter aus, als fast alle der anderen Leute hier. Trotz der Pause, die ich hier oben jetzt erstmal einlege.

Aussichtspunkt auf dem Brocken-Gipfel

Auf einem Aussichtspunkt auf dem Gipfel des Brockens haben sich ein paar "Fernseher" versammelt...

Blick nach Ilsenburg

Wenn man von der Straße in Ilsenburg aus den Brockengipfel sehen kann, dann muss man doch auch vom Brocken nach Ilsenburg schauen können, denke ich mir - und siehe da: Vom Brocken-Rundweg aus hat man einen schönen Blick nach Ilsenburg.

Aber, auch egal. Auf einem Schild sehe ich, dass es einen "Brocken-Rundweg" gibt, unter dem Motto "Willkommen ganz oben". Den laufe ich doch erstmal. Kaum jemand macht das. Sehr schön, dass man auf dem Weg einen Blick auf die eine oder andere Stadt am Harzrand hat - das gefällt mir dann wieder richtig gut! Schade, dass direkt ab der Asphaltstraße von Schierke der halbe Rundweg aus Schutzgründen gesperrt ist. Traurig, dass direkt vor mir drei junge Leute, die ansonsten nicht auf dem Rundweg unterwegs sind, die Absperrung wohl fast zwanghaft überklettern müssen...

 

Der Brocken - Rummelplatz auf dem Gipfel

Auf der dadurch nur halben Runde um den Gipfel des Brockens gerate ich dann also auf die Asphaltstrecke von und nach Schierke. Hier begegne ich einer wahren Völkerwanderung, zum weitaus größten Teil geht's für die Leute bergab. Zwar sind hier Schilder aufgestellt "Wanderer links gehen" - aber selbstverständlich interessiert sich hierfür weiter niemand: Die Vorstellung, hier mit dem Rennrad hinauf und vor allen Dingen dann wieder herunter zu fahren, gruselt mich dann doch sehr. Das muss bei der Masse an achtlosen Leuten doch eher eine Qual sein. Und wohl Muskelkater in den Händen ergeben: Vom pausenlosen, kräftigen Bremsen. Als ich ein paar Radler, auch mit Rennrädern, hier oben sehe, habe ich eher Mitleid als Respekt. Und bin ganz froh, dass ich dann doch nicht mit dem Rad hier hinauf komme...

Asphaltstraße von Schierke

Auf der Asphaltstraße von Schierke auf den Brockengipfel sind viele Leute unterwegs.

 

 

 

In den Strom von Menschen dort bergab will ich mich für meinen Weg hinunter nun nicht unbedingt einsortieren. Zumal ich mir auch recht gut vorstellen kann, was dann in Schierke in Öffentlichen Verkehrsmitteln so los sein wird. Schließlich leben wir ja grundsätzlich auch in den Zeiten einer Pandemie.

Mich genau daran zu erinnern und mir das Drama um die Corona-Pandemie vorzustellen, fällt dann aber sehr schwer, als ich kurz danach an der Bahnhof der Brockenbahn komme. Dort gibt es ein dichtes Gedränge an Menschen, die eine Fahrkarte für die Brockenbahn nach unten, nach Wernigerode, ergattern wollen. Ein Frau, die den Eingang zum Kartenverkauf kontrollieren soll, tut sich schwer, die Menschen einigermaßen zu bändigen. Mehrfach wird sie richtig laut und versucht so mit mäßigem Erfolg, entschieden aufzutreten. Es könnte wirklich schön sein: Hier oben auf dem Brocken ist das Virus, ist Corona, ganz offenkundig noch gar nicht angekommen. Jedenfalls kümmert sich kaum jemand um irgendwelche Regeln zur Vermeindung einer Infektion: Abstand und Mund-Nasen-Schutz - alles egal. Hatte nicht auch die politische Spitze des Landes Sachsen-Anhalt immer wieder öffentlich darauf beharrt, dass das Virus hier im Land völlig unbedeutend und man deswegen zu weiteren Maßnahmen nicht bereit sei? Auch ansonsten, bei Bahnfahrten, Supermarkteinkäufen und Gaststättenbesuchen habe ich beobachtet, dass sich hier der größere Teil der Personen nicht im Geringsten um irgendwelche Regeln kümmert. Nun - die Quittung wird sicherlich ziemlich fett kommen.

Gaststätte Der Brockenwirt

Auch die Gaststätte "Der Brockenwirt" ist ziemlich umlagert - aber nach dem langen Weg nach oben ist eine  Stärkung willkommen. In Corona-Zeiten ist der Umsatz sicherlich oft schlecht bis nicht vorhanden gewesen, da sind Tage wie diese sicherlich eine verdiente Wohltat für den Gastwirt.

 

 

 

Mir als "Hochrisiko-person" in diesen unseligen Corona-Zeiten gefällt das alles aber nicht sonderlich gut. Auch das dichte, zumeist aufgekratzte Gedrängel in dem Gaststätten-bereich neben dem Bahnhof gefällt mir nicht. Na klar: Das Gipfelglück muss ja wohl irgendwie raus, aber... ist das denn eigentlich ein Rummelplatz hier? Muss man denn zwangsweise den Verstand beiseite räumen, nur weil man auf 1141 m Höhe ist? Ist die Luft hier schon zu dünn für viele?

Längst ist mir bei der allgemeinen Achtlosigkeit der Leute hier oben klar, dass die Brockenbahn für mich auch keine Alternative für den Weg nach unten sein kann: Für mich viel zu gefährlich.

Auf dem großen Gipfel-Rondell neben Hotel, Wetterstation und Sendemast gelingt es mir dann, ein etwas abseitiges Plätzchen zu finden, um mich auf einem Holzbalken eine Weile hinzukauern. Einen kleinen Moment mal sitzen - ist ja auch ganz schön. Der Felsen, der den Gipfel markiert, ist zumeist eng umlagert für die begehrten Gipfel-Selfies und -Gruppenfotos. Aber, ganz ehrlich: Irgendwie ist dieser Massenbetrieb hier oben einfach nicht mein Ding. Natürlich ist es wirklich nicht vergleichbar, aber bei meinen paar Bergwanderungen im Oberallgäu oder auch in den Dolomiten hat mich auch und gerade diese Ruhe und Stille in der Bergwelt fasziniert. Das hier - ist genau das Gegenteil. Aber, nun ja: Was habe ich erwartet? Das hier sind eben auch nicht die Alpen...

Eine Weile lang geht mir durch den Kopf, wie ich denn jetzt von diesem Berg wohl wieder herunter kommen kann? Die Bahn: Keine Option! Die Asphalt-Strecke nach Schierke: Keine Option! Dann bleibt ja nur... der Weg hinab, bei dessen Aufstieg ich mir geschworen habe, ihn nicht wieder hinunter zu gehen: Der "Hirtenweg", also dieser Löcher-Beton-Weg. Was für ein Mist! Eigentlich ist mir ja längst schon klar, dass ich genau den Weg wieder runter muss, die Grübelei ist also völlig überflüssig.

Eigentlich sind meine Gedanken aber ja längst schon ganz woanders. Und mein Blick ziemlich tunnelförmig. Denn: Mir ist ja schon eine ganze Weile zum Heulen zumute... Und, wie schon weiter oben erwähnt, rattert es in meinem Kopf und mir gehen in engem Takt jede Menge alter Gedanken und Erinnerungen durch den Sinn.

 

"Stell Dir vor, es ist Frühling - und kein Baum wird grün!"

So lautete in großen Lettern die Beschilderung einer Tafel, die ich gemeinsam mit meinen Umweltschützer-Freunden damals, es ist wohl im Herbst 1984 gewesen, in der Fußgängerzone von Braunschweig aufgestellt habe, direkt neben unserem "Infotisch" zum Thema Waldsterben.

Die Diskussion um das Waldsterben wogte seinerzeit schon seit ein paar Jahren massiv durch die Öffentlichkeit, sehr massiv - und mich und meine Freunde bewegte dieses Problem sehr. Es war uns förmlich in die Knochen gefahren. Seinerzeit meinte man, eine einzige Ursache für das dramatische Waldsterben gefunden zu haben: Den "Sauren Regen" - bzw. die Luftverschmutzung durch Schwefeldioxid. Später fand man zügig weitere Luftschadstoffe, die dem Wald enorm zu schaffen machen: Vor allem Stickstoffoxide und Ozon.

Wenn man sich seinerzeit als junger Mensch darum sorgte und im öffentlichen Bereich eine Tafel mit dem oben genannten Text aufstellte, sich also öffentlich für einen besseren Umweltschutz einsetzte, dann passierte Erstaunliches: Neben ein paar oft eher verschämten Sympathiebekundungen wurde man von der Masse der Passanten beschimpft und bepöbelt, offenbar als eine Art "Volksverräter" angesehen. Ich will und kann gar nicht zählen, wie viele Dutzende Male ich und meine Freunde in Arbeitslager, in Konzentrationslager, an den Galgen gewünscht wurde. Oder auch schlicht erschossen. Meist von ganz normal aussehenden Passanten. Die Saat des Nationalsozialismus war (ist?) verblüffend verbreitet und bei vielen doch sehr tief verinnerlicht. Die gewalttätigen Möglichkeiten, die den Menschen so - völlig spontan - auf der Straße einfielen, waren zuweilen schon beeindruckend! Und ebenso erschütternd. Das erzeugte allerdings natürlich auch ein intensives und sehr starkes "Wir-gegen-Die-Gefühl".

 

 

 

Warum auch immer: Eine beliebte Unterstellung ist auch immer gewesen, dass man mit dem Anliegen nach mehr Umweltschutz überhaupt nicht ein allgemein besseres, gesünderes Leben wolle - sondern doch nur den Staat, also die Bundesrepublik, zerstören wolle. Und eigentlich doch "nur" ein durchtriebener, böser Kommunist sei. Eine also ebenso beliebte, sehr verächtlich gemeinte Beschimpfung war seinerzeit dann auch immer wieder gern:

 

"Geh' doch nach drüben!"

Wobei - das muss man jungen Leuten heutzutage wohl erklären - mit "drüben" war die DDR gemeint. Wenn man eine andere Meinung, als den Mainstream hatte, dann soll man doch gefälligst in die DDR auswandern. Immerhin: Diese Beschimpfung konnte nicht aus der Nazizeit stammen, wie ja etliche andere Beschimpfungen. Und heutzutage ist sie längst von der Zeit überholt worden, glücklicherweise...

Robin Wood auf DDR-Grenzstreifen 1986

Na also - von vielen gewünscht: Und umgesetzt!
Am "Tag der deutschen Einheit", dem 17. Juni 1986, bestatten "wir" dem DDR-Grenzgebiet zwischen den Kraftwerken Buschhaus (West) und Harbke (Ost) ein Besuch ab. Motto: "Mit Harbke und Buschhaus geht uns die Luft aus". Die nahenden DDR-Grenzer zeigen sich maulfaul und wollen nur Informationen, was das hier solle.

 

 

 

"Geh' doch nach drüben!" Aber doch: Nun, jetzt, heute bin ich hier - wo früher "drüben", also DDR, war. Und genau hier war es so "drüben", wie nur sein konnte: Nur Militärs durften hierhin, in den grenznahen Bereich - nicht die "normale Bevölkerung" der DDR. Und - was soll ich sagen? Die damals bizarr anmutende Vision von 1984, kein Baum würde mehr grün werden, schien seinerzeit doch recht duster gewesen zu sein und eigentlich doch unvorstellbar. Heute allerdings könnte sie ja vielleicht eher lauten: "Stell Dir vor, es ist Harz - und kein Baum ist mehr grün". Noch ist es nicht ganz so - aber vorstellbar ist es längst. Leider.

All das sind Gedanken, die mir hier, jetzt, heute durch den Sinn rasen. Massenhaft alter Geschichten und Bilder wirbeln geradezu durch meinen Kopf. Schon auf dem Weg hinauf - und auch jetzt hier oben auf dem Gipfel des Brocken. Beinahe fühle ich mich wie paralysiert.

Was ist nur passiert? Bzw.: Was ist NICHT passiert? Warum nur haben wir jahrzehntelang nichts gegen diese ökologische Katastrophe unternommen?

 

Waldsterben 2.0 ?

Es ist wohl so: Das Waldsterben ist einfach ein viel zu alter Hut. Viele Jahre lang in den 1980ern in der Öffentlichkeit in einer solchen Ausführlichkeit und Intensität durchgekaut, dass zunächst nach der Katastrophe von Tschernobyl im Jahr 1986 und dann nach der politischen Wende im Jahr 1989 einfach kein Gedanke, kein Raum mehr für Waldsterben vorhanden war. Das Waldsterben ist in der breiten Bevölkerung in Vergessenheit geraten, schlicht und einfach. Man hatte nach so vielen Jahren wohl auch die Faxen dicke von dem Thema. Man behauptete auch, das Problem sei im Griff. Und in der Tat: Der Wald ist ja auch nicht vollständig abgestorben.

Aber "vorbei" gewesen ist das Waldsterben allerdings nie. Die Waldschäden haben sich im Laufe der Jahre stets stabil auf einem hohen Niveau bewegt. Die Schäden der Bäume bewegen sich die gesamte Zeit über auf einen sehr hohen Plateau. Nichts hat sich verbessert, niemals. Das kann man eindrucksvoll in den jährlich erhobenen Statistiken nachverfolgen, die derzeit vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft veröffentlicht werden.

Dort kann man schnell und leicht erkennen, dass das Waldsterben, oder vielleicht präziser: Die Waldschäden, seit den 1980er Jahren immer fortbestanden hat, sich der Zustand sogar langsam und kontinuierlich verschlechtert hat. In den letzten paar Jahren allerdings wird es noch viel dramatischer, als es zuvor all die Jahre war. Der Prozess des Waldsterbens hat sich kolossal beschleunigt.

Das habe ich selber zwar immer mal wieder im Blick gehabt, aber, zugegeben: Auch ich habe dieses Geschehen dann meist wieder schnell verdrängt. Bis jetzt jedenfalls. Jetzt haut mich hier das unmittelbare Erleben emotional fast um. Fast ein Rücksturz in alte Zeiten.

Natürlich: In den letzten zwei, drei Jahren taucht der sterbende Wald als Thema in den öffentlichen Medien hier und da wieder mal auf. Zwar weit entfernt von der Massivität und der emotionalen Geladenheit der 1980er Jahre, aber immerhin. Erstaunt, ja: irritiert höre ich dann gleich mehrere Politiker sagen, dass man das Waldsterben damals ja bewältigt hätte! Das würde man bei diesem Waldsterben 2.0 sicherlich auch.

Wie bitte? Was ist denn das für ein Blödsinn? Waldsterben 2.0? Was für ein Quatsch! Wie schon geschrieben: Das Waldsterben ist immer noch das Gleiche. Okay - was man tatsächlich gut in den Griff bekommen hat, ist die Belastung der Luft durch Schwefeldioxid SO2 in der damaligen Zeit. Mitverantwortlich für den "Sauren Regen" hat man diesen einen Luftschadstoff durch umfassende und auch recht zügige Maßnahmen und auch durch den Zusammenbruch der sozialistischen (Miss-)Wirtschaft in den osteuropäischen Staaten in erheblichem Umfang in unserer Atemluft reduziert. Der "Saure Regen" - er ist in der Tat durchaus deutlich weniger sauer geworden. Immerhin! Ohne Zweifel durchaus eine Großtat in der Umweltpolitik!

 

Der böse, böse Borkenkäfer!

Aber - anderer Dreck in unserer Luft, er ist immer noch da. Die Stickstoffoxid-Belastung der Luft, sie ist nur ganz, ganz langsam etwas geringer geworden in all den Jahren (wer erinnert sich noch an den Betrug der Autofirmen beim Diesel-Abgasskandal, der vor der Corona-Pandemie viele Schlagzeilen beherrscht?). Kein Ruhmesblatt!

Die Belastung unserer Atemluft mit dem für den Wald sehr stark (und natürlich auch für den Menschen) schädlichem Ozon hat seit den 1980er Jahren im Mittel gar etwas zugenommen. Der Wald hat also immer noch erheblichen Schadstoff-Stress.

Die auch damals schon bekannte Klimaerwärmung hat in den Jahren auch weiter dramatisch zugenommen, wird mittlerweile kaum noch bestritten - was in den 1980er Jahren noch durchaus üblich war. Dem kontinuierlich schwächelnden, kranken Wald rückt dann noch, natürlich, der Borkenkäfer vermehrt zu Leibe - was soll er auch ansonsten machen? Die regionsweise extrem trockenen Sommer der letzten Jahre machen dann dem Wald den Garaus. Diese Dürren sind das wohl schlimmste, was dem Wald noch passieren kann. Der Borkenkäfer hat dann letzten Endes ganz leichtes Spiel - aber er kann ja nun nichts dafür, dass es ihm dermaßen leicht gemacht wird, sich massenhaft zu vermehren. Und das besichtige ich gerade hier im Harz.

Brutbild-Spuren des Borkenkäfers in Baumrinde

Man braucht auf dem Weg nur von irgendeinem herumliegenden Baumstück ein Stück Rinde abpulen, dann sieht man es, das Brutbild des Borkenkäfers, das charakteristische Spuren hinterlässt. Da die Rinde die "Versorgungszone" des Baumes ist, stirbt der Baum natürlich, wenn die Versorgung so massiv unterbrochen wird.

 

 

 

Und, überhaupt: Wer sagt denn eigentlich, dass bei dem Waldsterben in den 1980er Jahren nicht auch schon der seinerseits bereits eingesetzte Klimawandel mit beteiligt gewesen ist (was man damals gar nicht weiter in Erwägung gezogen hat)? Und wer sagt, dass die noch immer massiv vorhandenen Luftschadstoffe heute nicht auch immer noch am Waldsterben beteiligt sind? Waldsterben 2.0? Alles ganz neu oder plötzlich wieder da? Pah! Lassen Sie sich da nicht von interessegeleiteten Politikern und sonstigen Vertretern irgendwelchen Unfug erzählen. Die Zusammenhänge sind ohne Zweifel viel komplexer, als solch simple Ansagen.

 

Betroffenheit... oder: Haben wir alles es nicht doch irgendwie so gewollt?

Es ist ein in den 1980er Jahren ausgesprochen abgenutzter Begriff: "Betroffenheit". Aber er passt hier gerade in diesem Moment wieder exakt für mich: Meine alte Betroffenheit über den kranken, sterbenden Wald in den 1980er Jahren, die mich zu vielem angetrieben hat und mir letztlich den Weg in mein Berufsleben gewiesen hat, diese Betroffenheit ist hier und heute zurückgekehrt. Binnen weniger Stunden. Mit der gleichen Wucht - bis in die Knochen.

Das kann doch alles so nicht weiter gehen! Es kann "uns" doch nicht egal sein, wenn hier (und nicht nur hier im Harz) ganze Ökosystem den Bach runtergehen!

 

 

 

"Stoppt die giftigen Autoabgase!" stand mal auf einem Transparent, das ich mit drei Freunden an der seinerzeit größten Produktionshalle der Welt, bei Volkswagen in Wolfsburg, (ungebeten) aufgehängt habe - am 10.10.1984. Die Tagesthemen sprachen vom "hinlänglich bekannten Aktionismus" - ich denke bis heute, dass der damals notwendig gewesen ist. Aber: Nicht im Traum haben wir damals daran gedacht, dass genau dieses Thema noch Jahrzehnte später ganz genauso aktuell sein wird. Erst in den letzten paar Jahren, nach Aufdeckung der ganzen jahrelang anhaltenden, unsäglichen Betrügereien auch, in genau dieser Produktionshalle, tut sich wirklich etwas beim "Stoppen der giftigen Autoabgase". Und es kann keinen Zweifel geben: Neben der menschlichen Gesundheit ist hierdurch auch die Natur erheblich ramponiert worden...

Aber es hat ja weitgehend Ruhe geherrscht: In den letzten 30 Jahren ist es "uns allen" offenbar weitgehend egal. Sollen es doch die Forstleute richten, dass wir weiterhin gemütlich durch das Grün laufen können - oder? Fast könnte man meinen, dass wir es doch alles so gewollt haben. Genau so!

Denn eigentlich wollen wir doch, dass sich nichts für uns ändert. Natürlich wissen wir um all die Welt-Probleme wie Klimaänderung, Artensterben, Luftverschmutzung, Grundwasser, Bodenauslaugung, Waldsterben und und und... Aber, bitteschön: Richten soll es immer zum Beispiel "die Politik". Die Politik soll alles in Ordnung bringen. Und das, bitteschön, auf eine Weise, dass sich für uns, bitteschön, nichts weiter ändert und wir weiterhin so leben, wie immer - es sei denn, die Häuser, Reisen und Autos können, bitteschön, noch ein wenig größer werden.

Und: Ja, und zumindest bei Reisen bin ich da selber ja auch dabei und kräftig beteiligt an dem Dilemma...

Also - haben wir das alles dann doch so gewollt, oder?

Kann das so gut gehen auf dieser unserer einzigen bewohnbaren Erde?

 

All dies sind die Gedanken, die mir hier oben auf dem Gipfel des Brocken in hohem Takt durch den Kopf rasen. Beinahe wie eine Brücke zwischen den Jahren 1982 bis zur Jetztzeit für mich. Und, verdammt, nochmal: Das muss hier jetzt gerade alles mal raus!

 

Zurück in der Gegenwart - und auf dem "Hirtenstieg" zurück nach Ilsenburg

Aber - plop! - muss ich zurück in die Gegenwart! Gerade bin ich ja noch an diesem heißen September-Tag hier auf dem Brocken.

Ich lasse den Blick in die Runde schweifen: Hunderte treiben sich heute hier herum. Bei den weitaus meisten herrscht enormer Frohsinn - Gipfelglück!? Keine Spur von Nachdenklichkeit, keine Spur von Waldsterben, keine Spur von Corona. Offenbar bin ich der einzige weit und breit, den diese tragischen, trüben Gedanken hier oben auf dem höchsten Berg Norddeutschlands umtreiben - und trotz der Menschenmassen fühle ich mich hier doch allein.

Brocken, Gipfelstein

Fix was los an dem Gipfelstein des Brocken! Viele Leute sind bei diesem Traumwetter hier unterwegs.

 

 

 

Einen Moment geht mein Blick rüber zum 971 m hohen Wurmberg, bleibt eine Weile hängen. Markante Schneisen kann man dort sehen, die Skifahrer können dort alpin unterwegs sein. Irgendwann war ich dort oben doch schon mal, fällt mir wieder ein - damals gab es noch den Westen und das "drüben". Und ich war bequem mit der Seilbahn hinauf und wieder herunter gefahren, blickte vom Gipfel die nicht mal fünf Kilometer hinüber zum Brocken. Der war seinerzeit gefühlt etwa so weit entfernt, wie der Mond, und absolut unerreichbar: Seit August 1961 militärisches Sperrgebiet der DDR und der sowjetischen Truppen, als guter "Horchposten". Damals total unvorstellbar, mal auf dem Brocken zu stehen. Und jetzt stehe ich hier - und will eigentlich nur runter.

Brocken, Blick zum Wurmberg

Blick vom Brocken hinüber zum 971 m hohen Gipfel des Wurmbergs.

 

 

 

Also hält mich hier oben eigentlich nichts mehr - trotz des wirklich grandiosen Wetters. Bis zum Brockenstein bin ich einschließlich der halben Brockenrunde 14,4 km gelaufen. Die Strecke geht es jetzt also wieder zurück, ohne Brockenrunde. Und auch, wenn ich mir bei dem Weg hinauf geschworen habe, diesen blöden Löcher-Beton-Weg nicht wieder hinunter zu gehen: Ich sehe gerade keine Alternative - wenn ich denn den vielen Corona-Ignoranten ausweichen will.

Also geht's wieder runter. Der immer wieder mit seinem Tuten weithin hörbare Dampflok-Zug der Brockenbahn nach Wernigerode fährt unweit von mir über den Weg. Die Fahrt mit Dampfzug ist sicherlich ein Fest für alle Eisenbahn-Nostalgiker - das kann ich gut verstehen. Ich sehe sehr dichtes Gedrängel von Leuten auf den kleinen Plattformen an den Enden der einzelnen Waggons. Auch ein Fest für Viren.

 

 

 

Kurz danach lese ich auf einer Infotafel der Nationalpark-Verwaltung am Kleinen Brocken: "Doch auch künftig werden hier oben Fichten wachsen, denn es ist wenigstens feucht genug. Selbst ohne Schnee und Regen kommen Fichten zu Wasser, indem sie mit ihrem dichten Nadelkleid aus Wolken oder Nebel Tröpfchen auskämmen." Nun denn - wenn ich mich hier oben so umschaue, dann sehe ich in der Tat nur Fichten - junge, kleine Fichten. Aber ob es mit der Feuchtigkeit wirklich so reichen wird? Die vielen Bäume hier oben, die es nicht überleben, lassen Zweifel in mir aufsteigen. Immerhin ist man hier ja, wie schon erwähnt, an der Baumgrenze unterwegs.

Aber viele Stopps mache ich gar nicht mehr. Zügig stratze ich jetzt herunter, zum gemütlichen Spaziergang fehlt mir dann doch jegliche Muße, aufgewühlt, wie ich bin. Ab und zu gehe ich ein Stückchen neben dem Beton-Weg. Oft aber geht das wegen des Bewuchses am Rande nicht so gut - man sollte die empfindlichen Pflanzen hier oben ja auch nicht zertrampeln.

Immerhin: Durch den Perspektivwechsel auf dem Rückweg geht der Blick jetzt halt meistens nicht zum Gipfel, sondern in die Umgebung des Brockens. Abgesehen davon, dass es weiterhin recht diesig ist, ist der Blick in die Weite eigentlich sehr schön. Allzu viele Leute sind hier auf dem Weg nicht unterwegs. Die Masse der vielen hundert Leute auf dem Gipfel wählt andere Wege. Soll mir recht sein.

Brocken, Hirtenweg

Long way down: Geht man den Hirtenweg hinab, kann man oft den Blick in die Umgebung schweifen lassen.

 

 

 

Nach einiger Zeit schließe ich zu einem Pärchen auf, wir kommen ins Plaudern. Irgendwie finde ich es ja beruhigend, dass es ihnen ganze genauso geht, wie mir: Sie haben auch so gar keine Lust auf diesen Betonweg und sind genervt. Unsere Gehgeschwindgkeiten unterscheiden sich aber doch - also laufe ich den beiden sympathischen Leuten nach einiger Zeit dann doch davon.

Ilsefälle

Vor den Ilsefällen verabschiede ich mich von Heinrich-Heine-Wanderweg. Der Blick auf die Ilsefälle ist trotzdem schön.

 

 

 

Im weiteren Verlauf entscheide ich mich ganz bewusst gegen den Heinrich-Heine-Wanderweg, sondern laufe, auch im Ilsetal, einfach den breiten Fahrweg hinab. Der ist zwar lange nicht so lauschig, wie der Wanderweg, hat aber den angenehmen Vorteil, dass ich einfach so drauflos laufen kann. Auf dem Wanderweg muss man doch immer wieder gut auf den Weg achten. Aber ich bin als Wanderer eben doch recht untrainiert und da ich inzwischen aber durchaus ein wenig müde werde, finde ich es gerade prima, ohne besondere Konzentration einfach so drauflos zu laufen auf dem Weg nach Ilsenburg. Auch nehme ich mir kaum noch Stopps zum fotografieren.

Laubbäume bei Ilsenburg

Ein schöner Laubwald kurz von Ilsenburg.

Nach exakt zwei Stunden Weg erreiche ich die ersten Ausläufer von Ilsenburg: Die "Obere Sägemühle" und die "Obere Drahthütte". Wie schön, dass man in Ilsenburg diese historischen Industrieanlagen mit kleinen informativen Tafeln versehen hat - woraus ich ersehen kann, dass die Obere Drahthütte bereits 1850 stillgelegt worden ist. Jetzt ist es ein schönes Wohnhaus.

Ilsenburg, historische Sägemühle

Am Stadtrand von Ilsenburg stößt man zunächst auf eine historische Sägemühle, heutigen Ferienhäusern. Sehrschön: Auf dem charakteristischen Infoschildern der Stadt erfährt man in aller Kürze ein wenig über das Gebäude.

Aber das Ilsetal zieht sich auch von hier noch eine ganze Weile hin. Es dauert noch eine halbe Stunde, bis ich im Stadtzentrum bin - auch, weil ich an dem großen Autoparkplatz dem Angebot einer freien Parkbank gerade mal nicht widerstehen kann. Sitzgelegenheiten, zumal unbesetzte, habe ich ansonsten auf dem Weg nicht sonderlich viele gesehen. Da kommt so eine Pause gerade recht. Jaja, ich bin schon ganz schön geschafft...

Beim Einkehren in einer Gaststätte in Ilsenburg kann man mir dann später lediglich einen recht fetten Kartoffelsalat mit einer Bockwurst anbieten, aber in der Not...

Nun ja, immerhin reicht die hinzugewonnene Energie, um noch einen Schlenker zum Supermarkt zu machen - irgendwas muss den Fettklumpen im Bauch ja wieder neutralisieren. Oder so.

Um 18:47 Uhr bin ich dann wieder in meiner Unterkunft in Bahnhofsnähe - 9 Stunden 10 Minuten, nachdem dort heute Morgen gestartet bin. Alles zusammen bin ich heute 24,3 km gelaufen. Überraschend: Mein GPS-Gerät meint, dass ich insgesamt zwar 1097 m Aufstieg gemacht habe, aber nur 951 m Abstieg. Und das, wo doch Start- und Endpunkt derselbe sind, aber wahrscheinlich hat es in der recht langen Zeit eine Änderung des Luftdrucks gegeben, der für die Messung der Höhenmeter verantwortlich ist.

Die Eindrücke, die ich gesammelt habe, sind enorm! Der Weg am Ilsetal ist wunderschön, aber die Eindrücke, die dann folgen, überlagern alles - und schlagen mir aufs Gemüt. Es ist viel eindrucksvoller, als ich vermutet hatte, diesem Waldsterben hier so dermaßen massiv zu begegnen.

Fahren Sie hin - schauen Sie es sich selber an! Schauen Sie nicht dran vorbei - sammeln Sie selber diese Eindrücke! Es muss nicht nur im Harz sein, das kann man ebenso in anderen Mittelgebirgen.

 

 

 

Ein Stückchen auf dem Europäischen Fernwanderweg E 11: Wanderung von Ilsenburg nach Wernigerode

Nun - da bin ich ja schon mit einer Blase unter dem Fuß in den Harz gekommen. Für eine Heilung sind die 24,3 km auf den Brocken nicht gerade hilfreich gewesen. Aber doch: Das Wetter ist so wunderbar, dass es mich direkt am Folgetag gleich wieder in meine Wanderstiefel bringt. Mein Ziel heute soll Wernigerode sein. Die Stadt habe ich von der Radtour auf dem R1 vor ein paar Jahren in bester, eindrucksvoller Erinnerung. Und: Eigentlich ist es ja mein Gedanke gewesen, in Wernigerode eine Unterkunft zu suchen - was dann ja nicht klappte: Ausgebucht. Dann will ich doch zumindest mal ein wenig nach Wernigerode, um mich dort noch etwas umzuschauen.

Die Wanderung schildere ich hier nicht in epischer Breite. Nur in aller Kürze: Zunächst geht es wieder zum zentralen Wanderpunkt von Ilsenburg, dem Blochhauer. Dort sehe ich umgehend eine Beschilderung in Richtung Wernigerode, zugleich ausgeschildert als Europäischer Fernwanderweg E 11 (dort beschriftet: "Niederlande - Harz - Masuren"). Auch das soll mir recht sein!

Der Weg in Kurz-Zusammenfassung: Es geht zwar ein wenig auf und ab, aber nicht sonderlich in die Höhe. Natürlich, denn beide Orte liegen inetwa auf gleicher Höhe. Das bedeutet: Es geht demzufolge zumeist durch Laubwald und nur selten durch ein offenkundiges Katastrophengebiet. Die meiste Zeit laufe ich durch schönen, schattigen Wald. Der Harz - wie aus dem Bilderbuch. Ein wirklich schöner Weg. Meistens, denn: Ein großes Areal Nadelwald nach wenigen Kilometern hat man schlicht flachgelegt.

große Rodungsfläche unweit von Ilsenburg

Noch nicht weit entfernt von Ilsenburg treffe ich auf diese enorme Rodungsfläche: Ein Bild der Verwüstung. Aber natürlich macht es Sinn, die Bäume zu fällen, zu "ernten", bevor alle abgestorben und wertlos sind. Und es entsteht Fläche für neuen Wald aus dann hoffentlich ortsansässigen Bäumen.

Protestplakat gegen das Waldsterben

Ob die Protestplakate noch rechtzeitig kommen? Das Plakat zeigt aber auch schön den Teufelskreis: Der Klimawandel sorgt für das Sterben der Bäume - und der fehlende Wald kann den Klimawandel noch weniger bremsen.

Die Beschilderung ist perfekt. Auch ohne jegliche Karte habe ich nie Probleme, den richtigen Weg zu finden. Das sorgt auf den breiten und ruhigen Wegen für völlig entspanntes Wandern. Nur wenigen Leuten begegne ich. Allerdings läuft es sich heute nicht so gut, die Beine sind und bleiben etwas schwer, der gestrige Weg auf den Brocken fordert heute seinen Tribut.

 

 

 

Ein paar besonders schöne Flecken fallen mir auf: Der Roseckenteich, noch nahe an Ilsenburg, lädt mich mit einer freien Bank gleich zu einer kurzen Pause ein. Der etwas verwunschen im Wald liegende, ehemalige Gipsbruch Klosterholz. Der Fernblick bei der zu Ilsenburg gehörenden Ortschaft Darlingerode. Bemerkenswert: Die Wasserscheide zwischen Weser und Elbe. Die Ruinen des Klosters Himmelpforte in wunderschöner Umgebung. Insgesamt ein schöner Weg. Man könnte ihn auch bestens mit einem Mountainbike fahren.

am ehemaligen Gipsbruch Klosterholz

Ein schöner Ort: Am ehemaligen Gipsbruch Klosterode.

Wasserscheide Elbe-Weser

Auf die Wasserscheide zwischen Elbe und Weser wird deutlich hingewiesen.

 

 

 

Nach genau vier Stunden Weg - mit einigen kleinen Pausen unterwegs und mit zahlreichen Fotostopps - erreiche ich Hasserode, einen südlichen Stadtteil von Wernigerode. Schnell orientiere ich mich direkt in Richtung Stadtzentrum, nicht ohne den Blick zum Brocken in meinem Rücken auch mal zu genießen. Da oben war ich ja gestern erst.

Das Zentrum von Wernigerode, einmal kurz besichtigt im Oktober 2012 auf der Radtour, ist auch heute, an diesem heißen, hochsommerlichen Septembertag einfach wunderschön!

Aber: Mein heißer Wunsch nach einer erfrischenden Pause mit einem kalten Getränk im kühlenden Schatten - er erfüllt sich nicht! Die Stadt ist voll, sie quillt fast über mit Touristen. Die Folge davon ist, dass alle Plätze im Schatten voll sind, wirklich alle. Die Menschenmengen sind ja so gar nicht mein Ding, schon gar nicht nach so einer ruhigen Wanderung. Und mir fehlt die Geduld, mich in irgendwelche Warteschlangen bei Gaststätten einzureihen. Oder irgendwo mit coronamäßigem Abstand rumzulungern, bis vielleicht mal ein Platz frei wird - oder auch nur eine Sitzbank.

Wernigerode, am Rathaus

Viel los in Wernigerode am Rathaus! Und ein schattiges Plätzchen kann ich gerade nicht finden.

Also drifte ich unversehens immer weiter durch die Stadt, fühle mich hier aber auch angestrengt und genervt. Ein Blick hinauf zum Schloss hoch über der Stadt - schön! Und beeindruckend! Ob ich dort noch hinauf soll? Ach, nein - das ist mir gerade zu anstrengend.

Als ich unweit des Bahnhofs bin, gebe ich die Suche nach einem schönen Pausenort einfach auf, gehe zum Bahnhof - und nehme nach eineinhalb Stunden Aufenthalt in Wernigerode den nächsten Zug "nach Hause", also nach Ilsenburg.

Insgesamt bin ich heute in sechs Stunden, sieben Minuten 12,95 km bis zum Bahnhof von Wernigerode gelaufen - heute wirklich richtig mühsam. Dabei ging es durchaus überschaubare 247 m hinauf und 263 m hinab.

Einen schlimmen Eindruck kann mir die Stadt Wernigerode auf dem Bahnhof leider nicht ersparen: Man ist hier achtlos. Die Corona-Pandemie ist auch hier in Wernigerode nicht wirklich angekommen. Zwei Ansagen höre ich beim Warten auf dem Bahnsteig, es seien auch dort Mund und Nase mit einer Maske zu bedecken. Ganz genau schaue ich hin, während ich mich weit abseits aufhalte: Von 30 bis 40 Wartenden auf "meinen Zug" haben exakt zwei einen Mund-Nasen-Schutz aufgesetzt, einschließlich ich. Immerhin: Etwa die Hälfte setzt dann im dichten Gedränge beim Besteigen des Zuges einen auf. Vor soviel Achtlosigkeit muss man sich dann nur selber schützen. Und die Quittung dafür wird ohne Zweifel kommen.

 

 

 

Wanderung zum Ilsestein

Am letzten Tag meines Aufenthalts gibt es noch eine Wanderung für mich - eine kleine nur, aber eine feine: Zum Ilsestein. Kein großer Weg - also treibe ich mich zunächst noch eine Weile in Ilsenburg kreuz und quer herum, schaue mir das Schloss an und "versacke" eine ganze Weile in dem dortigen, sehr einladendem Café... Ich mag diesen Ort einfach!

Ilsenburg, Café am Schloss

Eigentlich hätte ich hier am liebsten den ganzen Tag sitzen können: Das Café am Schloss Ilsenburg.

 

 

 

Erst um ein Uhr mittags rappele ich mich dann auf, um zum Ilsestein hinauf zu gehen. Auch das: Ein schöner Weg! Nur: Anders, als auf dem Weg nach Wernigerode, geht es also wieder hinauf in mittlere Höhen. Also auch wieder in die Region des toten Harz-Waldes. Aber es geht auch durchaus viel durch Laub- und Mischwald, der noch einigermaßen grün ist und Schatten spendet. Aber an diese kahlen Baumleichen, die überall auftauchen, kann ich mich nicht gewöhnen. Will ich auch gar nicht - sollte man auch nicht!

Weg zum Ilsestein

Es geht meist gemächlich bergauf auf dem Weg zum Ilsestein.

 

 

 

Nach rund einer Stunde bin ich am Ilsestein, auf 473 m Höhe über NN. Plötzlich ist die Umgebung nur von Felsen bestimmt. Bin ich unterwegs nicht viele Leute begegnet, bin ich dann doch überrascht, hier auf dem Ilsestein auf rund ein Dutzend Leute zu treffen - in erster Linie junge Leute: Poser, die sich an schönen Flecken minutenlang selber und gegenseitig fotografieren und keinen Blick für die durchaus schöne Umgebung und Ausblick haben. Das ist doch eigentlich schade!

Blick auf das Ilsetal

Hier geht der Blick auf das Ilsetal in Richtung Brocken.

 

 

 

Ein wenig genervt bin ich davon schon, lasse eine Weile meinen Blick von den nicht ganz so prominenten Punkten schweifen. Hinüber zum Brocken. In das schön verlaufende Ilsetal, 160 m unter mir. Nach einer Viertelstunde verlasse ich den Ilsestein, mache noch eine kleine Pause an der heute geschlossenen kleinen Raststätte - und trotte dann hinab, suche mir dabei meinen Weg selbst. Gehe dabei grob in Richtung Ilsenburg, gerate auf eine Art Panoramaweg und habe dabei Ilsenburg häufig im Blick - solche Wege mag ich schon sehr.

Alter und neuer Wald

Auf dem frei gewählten Weg in Richtung Ilsenburg: Alles voller Fichten. Links sind Bäume in der Pubertät, rechts im Kindesalter.
Ob es so wohl klappt mit der "Erneuerung" des Waldes?

Zweieinhalb Stunden, nachdem ich am Schloss zum Ilsestein gestartet bin, bin ich wieder "daheim" in meiner Unterkunft. Es ist also kein besonders großer und schon gar nicht anspruchsvoller Weg - aber durchaus eine nette kleine Wanderung. Insgesamt, mit den Wegen in Ilsenburg, bin ich heute 5 Stunden, 39 Minuten unterwegs gewesen und habe dabei gemütlich 9,6 Kilometer zurückgelegt, mit 417 Höhenmeter im Aufstieg.

 

 

 

 

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Dirk Matzen

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