16. April 2005, genau 12 Uhr. „High Noon“ sozusagen. Und
tatsächlich: was sich vor meinen Augen abspielt kommt dem
Western-Klassiker schon recht nahe! Ich stehe in dem
bevorzugten Stadtteile Kavaklıdere in Ankara in einer größeren Zuschauermenge
eines aufgeregten Spektakels - fast schon ein Duell. Die Ursache ist
mir im Verborgenen geblieben, als ich an den Ort des Geschehens
komme ist der Zwist schon in vollem Gange. Zwei Autofahrer sind sich
offenbar ins Gehege gekommen, stehen jetzt auf der Straße und
beschimpfen sich, wollen aufeinander losgehen, werden jedoch von
Umstehenden mühsam zurückgehalten.
Besonders der von mir aus auf der rechten Seite tobende Türke ist
kaum zu bändigen. Auch der Polizist, der schon vor Ort ist, hüpft
zwischen den beiden völlig hilflos hin und her. Und das, wo doch
ansonsten die Polizei in dieser Stadt zumeist völlige Autorität zu
verkörpern scheint. Sie verhalten sich zumindest so... Aber hier:
die Polizei bietet ein Bild des Jammers.
Man spürt es selbst bei mir auf der anderen Straßenseite, dass
das Blut der Streitenden förmlich kocht! Welch eine Leidenschaft!
In jedem Reiseführer der Türkei kann man lesen, dass Türken nicht
nur emotionale sondern auch ausgesprochen neugierige Menschen sind -
und ihrer Neugierde auch hemmungslos nachgingen. Dies scheint sich
hier zu bestätigen. Dort drüben, auf der anderen Seite der - je nach
Verkehrsaufkommen - 2- bis 5-spurigen Straße, stehen ca. 40-50 Leute
in unmittelbarer Nähe des Konfliktes und schauen neugierig zu. Auch
bei mir, auf der „sicheren“, entfernten Straßenseite, sind es noch
einmal so viele Neugierige. Also lass auch ich alle meine Hemmungen
fallen und geselle mich zu den Gaffern.
Was mag wohl los sein? Einen Verkehrsunfall hat es
augenscheinlich nicht gegeben. Die sonst doch so freundlichen und
zurückhaltenden Türken - zum ersten Mal binnen insgesamt fünf Wochen
Aufenthalt bei mehreren Besuchen sehe ich das ganze Potential ihres
Temperamentes. Und bin beeindruckt. Ich komme nicht umhin, mir
Gedanken zu machen, ob dies wohl echt ist, ob der gute Mann, sofern
man ihn losließe, tatsächlich auf sein gegenüber losstürmen würde
und diesem an die Gurgel gehen würde. Ein wenig erscheint mir das
alles auch viel Theatralisches zu haben und mit viel Spektakel
inszeniert (um mich herum können einige sich das Grinsen nicht
verkneifen) - aber, Moment mal: ich weiß dies nicht wirklich. Fange
aber auch zugleich an, nachzudenken - ob man mir auch so
unerbittlich begegnet wäre, mir, als Ausländer? Ob der gute Mann mich
auch so anbrüllen würde?
Es ist ja völlig unvorstellbar, aber trotzdem: nur mal angenommen
ich würde in dieser Stadt Auto fahren. Und würde mich irgendwo
ausgesprochen dämlich anstellen - würde man mir auch an den Kragen
wollen? Überall werde ich sofort als Ausländer erkannt, überall
begegnet man mir mit einem Lächeln. Zugegeben, das wandelt sich
zuweilen in ein breites Grinsen, wenn ich eines oder zwei meiner ca.
zwanzig türkischen Worte vorbringe - ist aber immer sehr
wohlwollend. Die Freundlichkeit der Menschen hier beeindruckt mich
immer wieder!
Also: nein! Es ist mir nicht vorstellbar, dass ich dort so
angegriffen würde. Kaum anzunehmen, dass ich so wild gestikulierend
beschimpft werde, oder mein Gegenüber dermaßen aus dem Häuschen
gerät! Nein - dies erscheint mir in dieser freundlichen Stadt
unvorstellbar, so lange ich mich hier nicht als Schwerverbrecher
betätige wird man freundlich oder zumindest neutral bleiben. Ich
fühle mich in Ankara sicher. Da ich von diesem Konflikt hier sowieso
kein Wort verstehe und die Aufführung auch nach einigen Minuten
keinerlei Fortgang bei der Handlung erkennen lässt, verlasse ich den
Ort des Dramas - vielleicht ja auch der Inszenierung. Schließlich
ist es nicht einmal mehr eine Stunde, bis ich zum Flughafen muss,
der Rückflug nach Deutschland steht an.
Aber: Emotionen sind in der Türkei oft zu beobachten. Gespräche
zwischen zuvor Unbekannten sind häufig sehr schnell ausgesprochen
lebendig und einander zugewandt. Bei vielen Kleinigkeiten lässt sich dies beobachten.
Oder nehmen wir mal das türkische Fernsehen. Theatralik ist dort
immer wieder durchaus gern gesehen - man schwelgt zuweilen geradezu
darin. Ich erinnere mich an Bilder z.B. vom 66. Todestag von
Atatürk. In dem Moment seiner Todesminute heulen im Land die Sirenen
- und durch Zufall kann ich am Fernsehen Zeuge des Programms auf
mehreren Sendern werden. Die meisten Programme zeigen in dem Moment
Aufnahmen aus seinem früheren Wohnhaus. An seinem Todesbett hat sich
eine offenkundig hochrangige Abordnung eingefunden, an der
Stirnseite stehen zwei Soldaten stramm.
Der eine dieser beiden Auserwählten hat seine Gefühle offenbar
nicht recht im Griff - er weint hemmungslos. Und das Fernsehen zeigt
es. Sekundenlang - 5 Sekunden - 10 Sekunden - 20 Sekunden - bestimmt
eine halbe Minuten lang fließen die Tränen des Soldaten. In Strömen.
In formatfüllender Großaufnahme. Später auch und immer wieder in
allen Nachrichtensendungen des Tages. Man stelle sich vor: Im
Adenauer-Haus würde zu seiner Todesminute jährlich eine Zeremonie
stattfinden, mit stramm-stehenden Soldaten, die hemmungslos weinen.
Unvorstellbar? Und dieses dann noch völlig insdiskret lange im
Fernsehen zu zelebrieren wäre wohl ein Skandal. Aber eben nicht in
der Türkei - hier lebt man offenbar mit Emotionen.
Oder es fällt mir ein Samstag-Abend ein - beim schnellen Zappen
durchs Abendprogramm fällt mir eine Szene auf, wo drei Personen auf
Zuschauerrängen im
Bild sind. Zwei fassen sich gerade ans Auge und ich denke, fast ein
wenig erschreckt „huch - weinen die??“. Andere Zuschauer werden
gezeigt - ja, Tränen in den Augen. Auf der Bühne wird ein Mann
interviewt, ich verstehe kein Wort, spüre aber, wie stockend und
schwer er erzählt. Nach kurzer Zeit übernimmt er das Mikrofon und
fängt ohne Musikbegleitung an zu singen. Man hört: er ist kein
trainierter, eher ein schlechter Sänger - aber gezeigt wird das
Publikum, das durch den Gesang geradezu geschüttelt wird von
Mitgefühl. Auch dort
überall: Tränenbäche in Großaufnahme. Es ist sehr ergreifend, auch
ohne eine Wort zu verstehen. Aber: kann man sich solch eine Szene in
einer Samstagabend-Show in Deutschland, bei „Wetten dass?“ oder dem
„Musikantenstadl“, vorstellen?
Solche vermeintlichen Kleinigkeiten zeigen mir immer wieder: die
Menschen in der Türkei sind anders, haben ein ganz anderes Gemüt,
als ich und meine gewohnte Umgebung. Dieses Gemüt flößt mir
allerdings immer wieder Respekt ein.
Ankara - aber auch sonst ist diese Stadt ist offenbar immer für
Überraschungen gut. Auch zum Beispiel, was das Wetter anbelangt.
Mein vierter Aufenthalt binnen einen halben Jahres in dieser Stadt
im Rahmen eines EU-Twinning-Projektes. Vier Wochen vor diesem
aktuellen Aufenthalt darf ich miterleben, wie die
4-Millionen-Metropole Ende März in reichlich Schnee versinkt. Was in
der teilweise sehr hügeligen Stadt zu einem Verkehrs-zusammenbruch
führt, den ich mir zuvor niemals hätte ausmalen können. In unserer
8-köpfigen Gruppe gibt es binnen kürzester Zeit drei Stürze - die
glücklicherweise alle glimpflich verlaufen. Sich bei Schnee und Eis
zu Fuß über die holperigen Fußwege durch die Stadt zu bewegen wird
dabei ungewollt zu einem aufregend rutschigen, glitschigen,
langatmigen - und völlig spaßfreien - Abenteuer. Zu Hause habe ich einen
ausführlichen Prospekt über Wintersport und Skizentren in der
Türkei. Aber wer käme schon auf den Gedanken, zum Skifahren in die
Türkei zu reisen?
Eine Woche vor meiner Anreise im April erreicht mich per Mail die
Nachricht „Der Winter ist zurück“. Als ich dann jedoch Anfang April
in Ankara aus dem Flugzeug steige, da schlägt mir 25 Grad Wärme
entgegen. Der Tags darauf unternommene sonntägliche Stadtrundgang
endet komplett durchgeschwitzt, es ist fast 30 Grad warm, die Luft
steht und ich bilde mir ein, dass die in 800 Metern Höhe womöglich
dünnere Luft mich zusätzlich schlaucht. Die ausgesprochen angenehme
Seite der Wärme: auch abends kann bis tief in die Nacht draußen
sitzen.
Auch Türken tun dies offenkundig sehr gerne - Parks, Restaurants,
Kneipen und Cafés sind lange bevölkert. Alle genießen den Ausbruch
des Sommers. Der kommt offenkundig sehr plötzlich, die gesamte Natur
ist kaum weiter entwickelt, als im heimatlichen Hamburg. Bäume und
Sträucher sind am Anfang der Woche zumeist noch völlig kahl. Wie
merkwürdig: hochsommerliche Temperaturen bei absolut winterlicher
Vegetation. Zum Ende meiner Woche in Ankara sieht dies jedoch schon
anders aus: die Bäume werden grün und auch beim Abflug präsentiert
sich die Umgebung Ankaras auf Feldern und Wiesen mit einem zarten
Grün. Bisher hatte ich bei meinen Aufenthalten dort nur braune und
graue Töne ausfindig machen können, alles sah sehr kahl aus - jetzt
sieht dies ganz anders und viel freundlicher aus.
Aber da sind wir ja schon wieder im Flugzeug an meinem
Abreisetag. Drei Stunden Flug, vorbei an Istanbul, über Bulgarien,
Rumänien, Ungarn, Österreich - und schon ist man wieder auf
deutschem Boden. In München. Die Umsteigezeit ist sehr knapp
bemessen, der Flughafen lang gezogen - etwas verschwitzt komme ich
ans Gate des Fluges nach Hamburg. Auch andere Fluggäste haben
es offenkundig eilig, das einchecken beginnt bereits.
Noch mal schnell durchgeatmet, den Schweiß aus dem Gesicht
wischen - da rüttelt mich ein lauter, markerschütternder Schrei aus
ca. 15 Metern Entfernung aus meinem Stress. Ein Blick zeigt die
Szenerie: ein auf einem Warteplatz sitzender Mann ist angefahren
worden, mit einem Kofferkuli! Offensichtlich wurde mit dem Vorderrad
auf - oder besser gegen - seinen Fuß gerollt. Eine kleine,
schmächtige Frau mit einem Kopftuch schiebt den Wagen. Sicher ist es
ihr Ehemann, der vor ihr geht und, auch verschwitzt, zwei kleine Kinder auf
den Armen trägt. Der angefahrene Deutsche hat ganz offenkundig
grauenhafte Schmerzen, mit schmerzverzerrtem Gesicht hält er sich
den Fuß - oder besser: den Schuh - und lässt mit hochrotem Kopf
pausenlos Flüche und Beschimpfungen über seine Lippen in Richtung
der orientalisch aussehenden Frau rauschen.
Der zweite Blick zeigt: Lediglich eine mittelgroße Reisetasche
liegt auf dem Kofferkuli. Und es wird mir noch etwas bewusst: die
Frau hatte kaum eine Chance. Von den auf das Besteigen des Flugzeugs
nach Hamburg Wartenden wurde der Weg nahezu komplett verstellt, es
gab ganz offenkundig nur die Chance, sich mit dem Kofferkuli an den
Sitzreihen entlang zu zwängen. Mit besonders großem Tempo kann dies
nicht geschehen sein - aber vielleicht hat sie ja ausgerechnet eine
empfindliche Stelle des Angefahrenen berührt. Mehr als eine
Berührung kann in diesem Gedränge kaum möglich gewesen sein.
Der Frau ist dies natürlich ausgesprochen unangenehm, es folgen
so etliche entschuldigende und beschwichtigende Gesten - offenbar
spricht sie kein Deutsch. Was sonst
kann man in einer solchen Situation tun, als sich zu entschuldigen?
Beim Verletzten zeigt dies keine Wirkung - er flucht grimmig weiter.
Durch die Entschuldigungen angestachelt mischt sich jetzt
ebenso empört jedoch auch seine neben ihm sitzende Frau ein und beschimpft die
Kulifahrerin lauthals in einer merkwürdig oberlehrerhaften Art. Auch
andere Anwesende fangen an zu pöbeln, oder schütteln auch nur den
Kopf.
Ratlos ob ihrer erfolglosen Bemühungen und offenkundig auch unter
Zeitstress schnappt sich die Frau mit dem Kopftuch mit sichtbar
zittrigen Händen wieder den Kofferkuli, sie hat Mühe ihn wieder in
Bewegung zu bringen, und geht schleichend langsam weiter. Niemand tritt zur
Seite und schafft etwas Platz, die Schneise hat, wenn überhaupt,
gerade mal die Breite des Kofferkulis.
Die fünf Meter unter scharfer, kopfschüttelnder Beobachtung
müssen der Frau wie eine Ewigkeit vorgekommen sein - nur noch kurz
um die Ecke, dann ist der Weg endlich frei. Leider jedoch berührt
sie in der Kurve einen dort stehenden Tisch, nichts passiert
eigentlich - außer eben dieser kleinen Berührung.
Anlass genug für die Frau des verletzten Mannes, wütend
aufzuspringen, und noch einmal mit erheblich gesteigerter Lautstärke
die angestrengte Kulischieberin anzubrüllen, sie solle doch
gefälligst einmal aufpassen! Weiteres verstehe ich glücklicherweise
nicht mehr, da ich vor Scham im Boden versunken bin - und dort
klingt alles weitere in meinen Ohren nur noch wie ein Echo des
Satzes „Herzlich Willkommen in Deutschland“ - „Herzlich Willkommen
in Deutschland“ - „Herzlich Willkommen in Deutschland“. Scham
darüber, was man sich hier mit den Gästen erlaubt - und auch Scham
darüber, diesen nicht geistesgegenwärtig zur Seite gestanden zu
haben.
Sehr schade, dass mich mein Heimatland immer wieder mit eher
peinlichen Szenen empfängt. Sehr schade auch, dass ich solche Dinge
immer nur ein paar Tage lang nach einem Auslandsaufenthalt wirklich
registriere. Und: ich beginne zu ahnen, wie furchtbar das Leben von
Frauen mit Kopftüchern hierzulande zuweilen sein muss...
Anmerkung Oktober 2010: Bis zum Oktober 2010 bin ich insgesamt 13mal nach Ankara gereist, immer für berufliche Einsätze im Rahmen von EU-Projekten, jeweils für eine Woche oder auch mal für 14 Tage. Dieses schlägt sich natürlich auch in der Anzahl
der Reiseberichte auf meiner Homepage nieder: Neben diesem Reisebericht, der vor allem ein paar besondere Eindrücke aus der dritten Reise von Ankara zurück nach Deutschland beschreibt, finden sich noch drei weitere Reiseberichte über Ankara auf meinen
Internet-Seiten und zudem eine umfassende Bilderserie mit 86 meiner Fotos im Großformat auf einer externen Homepage. Bei weiterem Interesse empfehle ich Ihnen also die Lektüre der anderen Berichte mit weiteren Eindrücken von Reisen in die türkische
Hauptstadt:
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