Reisebericht Łódź (Lodsch) -
  Bröckelnder Glanz vergangener Zeiten -
  mühsam erhalten

Reisebericht über einen mehrtägigen Aufenthalt in Łódź (Lodsch) in Polen im April 2016
   mit insgesamt 31 Bildern




Lodz, Sender Gleiwitz

Blick über die "Aleja marszałka Józefa Piłsudskiego" zu Wohnbauten im Stadtzentrum.

 

 

Heftige Reaktion auf ein paar Fotos aus Łódź

Die Reaktion einer Freundin auf meine Mail ist heftig:

"Uuuuuuaaaaaaaaah, wie furchtbar, LIEBER Dirk!
Schlimmer als DDR!
Mir wird schlecht!
Ich kriege Depressionen...
Nee, ich will nur noch Schönes sehen, bitte!"

Nanu - was ist geschehen?

Nun, ich habe der Freundin, auf Nachfrage, ein paar Fotos aus Łódź geschickt. Und dabei erwähnt, dass ich mich nach wie vor scheue, wirklich scheußliche Dinge zu fotografieren...

Okay, okay - sie trägt ein wenig dick auf! Das kommt öfters mal vor, das kenne ich schon von ihr. Aber, meine Güte, sooo schlimm sind die Bilder nun auch wieder nicht, die ich ihr geschickt habe. Oder?

Eine kleine Vorgeschichte hat diese Mail allerdings natürlich auch. Im April 2016 mache ich eine kleine, selbstorganisierte Rundtour durch das südliche Polen: Ein paar Tagen in Kraków (Krakau) folgen jetzt gut zwei Tage Łódź, danach zwei Tage Katowice (Kattowitz) und noch eine ganze Woche Wrocław (Breslau) bevor es nochmal zurück nach Kraków geht - und dann nach Hause. Es ist hier in Łódź also, von einem zwischenzeitlichen Kurzabstecher nach Warszawa (Warschau) mal abgesehen (eigentlich nur, um den neuen polnischen Hochgeschwindigkeitszug zwischen Kraków und Warszawa auszuprobieren), meine zweite Station auf dieser Reise. Aus dem wunderschönen Krakow habe ich eben dieser Freundin zuvor schon einen ganzen Schwung Fotos gemailt - und sie zeigte sich völlig überrascht und verblüfft, dass die Stadt so schön sei und gar nicht so "Ex-DDR-mäßig" aussähe...

Wie jetzt: "Ex-DDR-mäßig"??? Sie weiß schon lange von meinem Polen-faible, dass ich gerne zu unseren östlichen Nachbarn reise. Da finde ich es ja geradezu beleidigend, dass sie sich dann soo überrascht zeigt, dass es in Polen so schöne Orte gibt! Natürlich gibt es die - in Hülle und Fülle!

Als ich dann nun in Łódź bin und sie neugierig fragt: "Und wie isses jetzt? Haste den Theo getroffen?" - da denke ich: Jajajaaa, Theo... Lass mich damit doch in Ruhe! Also:

Ich kann auch anders! Anders, als aus Krakow - und dafür ist Łódź durchaus geeignet. Also suche ich ein paar, nun ja... garstige Fotos aus Łódź zusammen. Und maile ihr unter anderem folgende Fotos aus dem Stadtzentrum von Łódź:

Lodz, Gebäude ulica Piotrkowska 200-204

Blick von der ul. Piotrkowska 200 zum " Łódźki Manhattan".

Lodz, Ruinen der früheren Textilfabrik Uniontex

Blick durch die Ruinen der ausgedehnten Gebäude der früheren Firma "Uniontex".

Und erfahre daraufhin dann die oben exakt wörtlich zitierte Reaktion... Muss man also Depressionen kriegen in Łódź?

 

Keine Stadt für faule Murmeltiere - Was weiß man denn eigentlich so über Łódź (auf deutsch: Lodsch)?

Fahren Sie doch auch mal nach Łódź...

... und dann - erzählen Sie das Familie, Freunden, Kollegen, Nachbarn und so. Was meinen Sie, was Sie dann zu hören bekommen? Na?

Natürlich! Wie schon oben erwähnt: Alle, alle, alle (!) fragen Sie nach Theo, oder nennen Sie Theo, oder senden Ihnen Nachrichten, wie es Theo denn so ginge und so weiter... Wie ungeheuer lustig!

"Theo - wir fahr'n nach Lodz" - das ist offenbar das Einzige, das aller-aller-einzige, was Menschen daheim mit Łódź in Verbindung bringen, über Łódź wissen oder kennen. Vicky Leandros sei Dank. Ach ja, Vicky - vielen herzlichen Dank für diesen wuchtigen und seit 1974 (leider) unvergesslichen Titel! Eigentlich hat sie das Lied ja geklaut, das gab es schon seit 1915 - da allerdings als Soldatenlied "Rosa, wir fahren nach Lodz". Aber jetzt bin ich erstmal für alle möglichen Leute der "Theo", der nach Lodz fährt. Nun gut - immerhin jedoch bin ich nicht der "Theo gegen den Rest der Welt"...

Mehr weiß hierzulande aber offenbar kein Mensch über Łódź. Verblüffend vielen ist nicht einmal klar, in welchem Staat Łódź überhaupt liegt.

Darum in aller Kürze: Łódź (auf deutsch auch Lodsch) liegt in Polen, in Zentralpolen. Es ist eine der größten Städte Polens, mit derzeit rund 690.000 Einwohnern.

Mein Wissen über Łódź reicht zwar auch nicht soo viel weiter. Immerhin ist mir bekannt: Es ist nach Warszawa (Warschau) und Kraków (Krakau) die drittgrößte Stadt Polens. Łódź wurde in früheren Zeiten das "polnische Manchester" genannt - die Stadt boomte im 19. Jahrhundert unfassbar schnell und war DIE Textilmetropole weit und breit. Was zu enormen Reichtum in der Stadt führte - für einige, zumindest.

Traurig dann eher die Berühmtheit von Łódź im Zweiten Weltkrieg, als die Deutschen der Stadt im Jahr 1940 kurzerhand den Namen "Litzmannstadt" verpasst haben und dem ehemals blühenden jüdischen Leben in der Stadt den Garaus machten. Auch das jüdische Ghetto in Łódź, das zweitgrößte während des Zweiten Weltkriegs, erlangte traurige Berühmtheit: Rund 160.000-200.000 Juden wurden hier eingesperrt und größtenteils später deportiert und ermordet.

In der Volksrepublik Polen dann spielte die Stadt eine große und wichtige Rolle beim demokratischen Umsturz Ende der 80er Jahre. Über die Grenzen berühmt und auch mir bekannt ist auch die Filmhochschule von Łódź, die auch international berühmte Regisseure, wie Roman Polański und Krzysztof Kieślowski hervorgebracht hat.

Aber sonst? Aus dem Sport, genauer dem Fußball, ist mir der Verein Widzew Łódź ein Begriff - immerhin sind die ab und zu als polnische Spitzenmannschaft in europäischen Wettbewerben unterwegs gewesen. Aber nun gerade wegen finanzieller Unregelmäßigkeiten in die fünfthöchste Klasse des Landes heruntergestuft worden.

Aber überhaupt: Im Polnischen wird die Stadt ganz anders ausgesprochen, als Vicky dies in ihrem Lied seinerzeit tut. Und auch anders, als die normale polnische Schreibweise "Łódź" für deutsche Augen vermuten lässt. Die polnische Aussprache ist nämlich inetwa "Wudsch" - wobei das W so gesprochen wird, wie im englischen z.B. bei "what"... Aber das nur am Rande.

Und - es ist mir klar, lange bevor ich komme: Łódź ist eine reine Industriemetropole, definitiv KEINE Touristenstadt!

Mehr ist mir aber auch nicht bekannt über Łódź, als ich dort ein Hotel für zwei Nächte buche. Viele touristische Infos finde ich im Internet auch nicht. Also: Einfach mal hinfahren und gucken... Wie singt Vicky ja so kräftig und schön: "Steh auf, Du faules Murmeltier - bevor ich die Geduld verlier' ".

Los geht's also - ich fahr nach Łódź!

 

Ankunft in Łódź - die ulica Piotrkowska

Die drittgrößte Stadt Polens - und ich, als seit Jahrzehnten Viel-Reisender in Polen, bin noch nicht hier gewesen! Das kann ja so nicht bleiben! Nach dem fünftägigen Aufenthalt in Krakow komme ich jetzt in Łódź an, das Hotel ist mit Absicht wunderbar zentral gelegenen.

Nun gut, es gibt nicht viele bekannte Sehenswürdigkeiten in Łódź. Aus dem Stegreif weiß ich erstmal... keine. Außer der zentralen Straße im Stadtzentrum.

Verblüfft bin ich dann doch bei der Ankunft: Der winzige, zentralste von einigen Bahnhöfen der Stadt, Bahnhof Łódź Kaliska, wird einer knapp 700.000-Einwohner-Metropole nicht im Geringsten gerecht. Er wirkt geradezu lächerlich klein (später erfahre ich: Der eigentliche Zentrums-Bahnhof der Stadt, Łódź Fabryczna, wird derzeit neu gebaut und daher nicht angefahren). Aber insgesamt habe ich bei der Anfahrt schon gestaunt - über die schiere Größe der Stadt! Und mir ist sofort klar: Diese Stadt ist viel, viel zu groß, um sie in zweieinhalb Tagen erkunden zu können!

Lodz, Bahnhof Kaliska

Blick zur ul. Dworcowa, eine große Achse zwischen Altstadt und neueren Stadtgebieten.

 

 

 

Der erste große Bahnhof von Łódź, Widzew, liegt nämlich bereits seit über 20 Minuten hinter mir, als mein Zug in den zentralsten Bahnhof Kaliska einfährt. Umzingelt ist dieser kleine Bahnhof von geradezu gigantischen Straßen. Die Orientierung fällt mir zunächst ein wenig schwer - und schnell lerne ich meine erste "Łódź-Lektion": Ich bin in einer Auto-Stadt wie aus dem Bilderbuch angekommen. Überall gigantische vier-, sechs-, achtspurige Straßen.

Puh! Nicht so mein Ding!

Als ich dann nach einem gar nicht so langen und doch etwas mühsamen Fußweg in meinem Hotel direkt in der bekannten ulica Piotrkowska (auf deutsch die "Petrikauer Straße") ankomme und nach einer kleinen Karte für die Innenstadt frage, trifft mich ein irritierter Blick, der zu fragen scheint: "was will der denn hier?". Die abweisende, knappe Antwort dann, immerhin auf Englisch: "No!". Das Hotel ist eigentlich angesehen und genießt prima Bewertungen in Internet-Portalen...

Also zügig noch rüber zur Touristeninformation. Immerhin gibt es eine, ist gar nicht so weit. Aber, oh nein, es ist schon fünf nach sechs Uhr, und natürlich hat man schon zu. Später am Abend dann, wieder in meinem Hotel, möchte ich mich ein wenig im TV über die Lage in der Welt informieren - und stelle fest: 40 Fernsehkanäle - alle, ohne jede Ausnahme, auf polnisch.

Soll sagen: Sehr zügig habe ich das Gefühl, dass man in Łódź gar nicht so richtig auf Gäste eingestellt ist, schon gar nicht auf internationale.

Also bleibt mir nichts anderes übrig, als tatsächlich einfach so, frei nach Schnauze die Stadt zu erkunden - eigentlich mag ich so etwas ja ganz gerne. Den ersten Abend laufe ich also etwas unkoordiniert kreuz und quer durch die Innenstadt. Gelegenheit gibt's dazu reichlich: Die Prachtstraße ul. Piotrkowska läuft sagenhafte 4,9 km durch die Innenstadt - und das schnurgerade! Und sie ist zum erheblichen Teil (ca. 1,9 km) eine große, breite Fußgängerzone - wenn man mal von den vielen Radfahrern absieht (schon in Kraków bin ich etwas überrascht über die vielen Radfahrenden - die ich in meinen bisherigen Polenreisen noch nicht so zahlreich wahrgenommen habe). Aber für diese riesenlange Straße braucht man ja irgendein Gefährt, klar. Ab und zu luge ich mal in Hinterhöfe hinein, die oft viel Gastronomie beinhalten.

Lodz, ulica Piotrkowska nach Norden

... und hier nach Norden.

Eher versehentlich gerate ich auf den Altstadtmarkt - in polnischen Städten eigentlich immer ein Höhepunkt an Brillanz und Schönheit, Tradition und Lebendigkeit. Hier in Łódź wundere ich mich über die Trostlosigkeit dieses Platzes, nehme an, auf einem vergessenen Exzerzierplatz oder so gelandet zu sein. Erst am Folgetag sehe ich: Huch - DAS ist der Altstadtmarkt der Stadt gewesen??

Mich etwas verloren fühlend gehe ich einem auffälligen Schwung an Leuten einfach hinterher, die in einem angrenzenden Park über irgendwelche Trampelpfade laufen, über eine der vielen sechsspurigen Straßen - und lande prompt in dem Mega-Einkaufszentrum "Manufaktura", von dem ich schon zuvor gelesen habe. "Shopping" ist nie und nirgends ein Thema für mich, und nur ganz selten treffe ich irgendwo auf ein Einkaufszentrum, das mir zusagt. Allerdings, eine kleine Überraschung für mich: Dieses hier gehört durchaus dazu! Eingerichtet in einer alten, riesigen Textil-Industrie-Fabrik mit zahlreichen verschiedenen Gebäuden kommt das Ganze großzügig gestaltet und optisch beeindruckend daher! Wirklich toll! Die historischen Industriebauten sind großartig restauriert. Auch ohne zu shoppen: Sehenswert! 200 Millionen Euro hat man hier investiert, 4.200 Arbeitsplätze gibt es im "Manufaktura" - als dies zu sozialistischen Zeiten noch die Textilfabrik "Poltex" war, arbeiteten hier noch 12.000 Menschen. Und es ist nicht "nur" Shopping hier, sondern fast schon ein eigenes kleines Stadtzentrum, das neben Geschäften auch Restaurants, Kinos, Theater, eigenen Nahverkehr, ein Hotel und ein Museum beinhaltet.

Lodz, ulica Piotrkowska nach Norden

.Der Eingangsbereich des Shopping-Zentrums "Manufaktura" in den Hallen der alten gigantischen Textilfabrik des Industriellen Izrael Poznański.

Spätestens hier fällt mir auf, dass man in Łódź hin und wieder offenbar gerne mal kräftig in den Farbtopf greift: Vieles hier auf dem Gelände ist auffallend bunt gestaltet. Die vielen Fahrradständer, die Gestelle der Sitzbänke, die Wegweisertafeln oder zuvor schon eine große, zentrale Straßenbahnhaltestelle - alles ist grell bunt. Offenbar hat man in Łódź einen ausgeprägten Hang zu farbenfroher, bunter Gestaltung. Das fällt mir auch später immer wieder mal auf. Und das kann eigentlich nicht wirklich verwundern, denn, auf den anderen Seite: Vieles, vieles in Łódź ist eben auch noch grau.

Sehr, sehr grau präsentieren sich viele Häuser und ganze Straßenzüge - sobald man die repräsentative ul. Piotrkowska verlässt. Fast schwarz sind einige Gebäude - auch mitten im Zentrum der Stadt.

Auffällig ist für mich allerdings auch schon, dass die ul. Piotrkowska immer fader und öder wird, je näher man an das "Manufaktura" kommt. Da gibt es schon einiges an Leerstand in den Geschäften der Prachtstraße in der Nähe des großen Shopping-Centers. Auch der angrenzende, achteckige "Plac Wolności" ("Freiheitsplatz") wirkt auf mich eher trostlos.

Lodz, ulica Wschodnia

150 Meter von dem Glanz der ulica Piotrkowska entfernt: Blick in die nächste, etwas kahle, Parallelstraße ulica Wschodnia.

Schon in der an die ulica Piotrkowska angrenzenden Straße begegnet man etlichen Häusern in schlechtem, oft beklagenswertem, ruinösem Zustand. Es ist offenkundig und geradezu greifbar, dass die Stadt enorme Mühe hat, sich "über Wasser" zu halten. An vielen Orten erschreckt mich der dustere Zustand. Vieles wartet noch auf Sanierung hier in Łódź - und das zum Teil offenkundig dringend. An diesem ersten Abend kommt bei mir teilweise fast ein trübes, trostloses "Bukarest-Gefühl" hoch: Wohin wird der Weg von Łódź denn wohl gehen? Was wird schneller sein: Der Verfall oder die notwendigen Sanierungen?

Später abends spaziere ich dann noch ein wenig die Piotrkowska-Straße auf und ab. So richtig Freude will dabei auch nicht aufkommen. Zwar finde ich einige durchaus hübsch und manchmal einfallsreich gestaltete Kneipen und Gaststätten. Aber so richtig lustvoll erscheint mir das alles hier in Łódź an diesem Abend Anfang April nicht zu sein. Nicht andeutungsweise begegnet mir hier die Lockerheit und Lässigkeit, die mir die vorangegangenen Tage in Kraków so viel Freude gemacht haben. Hier überwiegen auch abends die eher ernsten, verschlossenen Gesichter. Aber es ist eh nicht viel los. Nun gut, warum auch: Es ist ein nicht besonders einladender Mittwochabend. Da kann man vielleicht nicht viel Leben in der City erwarten.

Lodz, eine Bronzefigur in der ulica Piotrkowska

Eine nette Idee: An etlichen Stellen hat man Denkmäler in Form von Bronzefiguren platziert.

Aber immerhin: Etliche schöne Jugendstil-Gebäude entzücken mich hier auf der ulica Piotrkowska - wirklich eine eindrucksvolle Straße mit vielen prachtvollen Gebäuden. Irgendwie allerdings habe ich Mühe, diese riesig lange Straße in der kurzen Zeit meines Aufenthalts angemessen zu erkunden.

 

Willkommene Tipps aus der Touristen-Information Łódź

Am nächsten Morgen dann, nach einem fürwahr sensationellen Frühstück, führt mein erster Weg dann natürlich wieder zur Touristen-Information. Dort treffe ich auf eine überaus engagierte, freundliche und gut englisch sprechende Mitarbeiterin. Sie steigt mit viel Lust ein auf meine Frage, was ich denn jetzt in den mir verbleibenden eineinhalb Tagen in Łódź sehen muss und soll, wenn ich an Shopping kein Interesse habe. Ganz offenkundig freut sie sich über den Interessenten an ihrer Stadt. Mit diversen Karten und auch Tipps zu persönlichen Lieblingspunkten von ihr ausgestattet kann ich mich neugierig auf den Weg machen. Na super - geht doch! Die Touristen-Information in Łódź: Eine gute Erfahrung!

Ein Name fällt bei der Dame in der Touri-Info gleich mehrfach, und ich habe ihn auch schon im Internet gelesen: Der Name Karl-Wilhelm Scheibler, einer der Großindustriellen des 19. Jahrhunderts und ganz offenkundig eine der prägenden Figuren der Stadt. Die Empfehlung der Dame aus der Touri-Info, mir das sanierte historische Werksgelände seiner früheren Baumwoll-Fabrik anzuschauen und auch die dazugehörige Wohnsiedlung in Księży Młyn (für deutsche Zungen zugegeben schwierig auszusprechen, die deutsche Bezeichnung war "Pfaffendorf"), ist jedenfalls in der Tat ein exzellenter Tipp. Die Fabrikhalle (ehemals die längste Fabrikhalle Polens) ist luxussaniert worden, dort gibt es Firmensitze und (Edel-)Wohnungen, und alles schaut grandios saniert und teuer aus!

Direkt daneben dann: In der ulica Księży Młyn eine Wohnsiedlung für die früheren Arbeiter. Dort hat man mit Sanierungen offenbar gerade erst angefangen - es wird offenbar nett, aber nicht edel saniert. Mir gefällt dieses abgeschlossene Wohnensemble richtig gut! Es erinnert mich stark an Bergmannsiedlungen im Ruhrgebiet. In Księży Młyn fühle ich mich eigentlich ganz ähnlich, wie in der Siedlung Eisenheim in Oberhausen.

Lodz, Ksiezy Mlyn saniertes Fabrikhaus

Viel zu lang für ein vernünftiges Foto: Das sanierte Fabrikgebäude der früheren Scheibler-Fabrik im Stadtteil Księży Młyn.

Lodz, Arbeitersiedlung in Ksiezy Mlyn

Die direkt an das frühere Fabrikgelände angrenzende Wohnsiedlung in der ulica Księży Młyn - zur Zeit meines Besuchs links saniert, rechts noch nicht.

Aber das zeigt schon, was einem an Widersprüchen in Łódź begegnet, und zwar auf Schritt und Tritt: Düsterer Verfall einerseits und aufwändige Erhaltung alter Substanz andererseits. Der Aufwand zum Erhalt oder zur Rekonstruktion der an jeder Ecke stehenden alten Substanz muss gigantisch sein! Oft wohl zu groß. Sowohl, was die Finanzierung anbelangt, als auch den Arbeitsaufwand. Und doch: Oft denke ich bei meinen Spaziergängen durch die Stadt für mich - hier und dort lediglich ein wenig frische Farbe, das würde Wunder wirken!

 

Noch etwas weiter unterwegs in Łódź

Das ist vielleicht mal ein guter Zeitpunkt, um noch ein paar Worte über die Geschichte von Łódź zu verlieren, denn damit wird leicht vorstellbar, was die heutigen Probleme ausmacht. Über viele Jahrhunderte war Łódź ein winziges, völlig bedeutungsloses Dorf mit ein paar hundert Einwohnern. Ab etwa den 1830er Jahren dann ging es mit dem Dorf binnen weniger Jahrzehnte rasant und unfassbar schnell bergauf: Die Industrialisierung setzte ein, massiv. Łódź wurde zu einem der wichtigsten europäischen Zentren der Textilindustrie. Rasend schnell entstanden Arbeitsplätze für zehntausende, hunderttausende Menschen. 1870 gab es 100.000 Einwohner, 1900 300.000, 1915 bereits 600.000. Die Arbeits- und Wohnbedingungen für die Arbeiter waren, wie zu Beginn der Großindustrialisierung üblich, entsetzlich.

Gleich mehrere Großindustrielle der Textilbranche konkurrierten miteinander in Łódź: Neben dem schon genannten Karl Wilhelm Scheibler sind da zum Beispiel noch die Herren Izrael Kalmanowicz Poznański oder Ludwik Ferdinand Geyer zu nennen. Sie konkurrierten nicht nur mit ihren gigantischen Fabriken, sondern zuweilen auch mit dem Prunk ihrer Wohnbauten. Zu der Zeit der Industrialisierung lebten in Łódź ähnlich viele Polen wie Deutsche.

Quasi aus dem Nichts entstand in kürzester Zeit eine gewaltige Stadt. Und genau das kann man im heutigen Stadtbild noch gut erkennen: Vieles wirkt heute, wie voneinander abgeschaut. Die alten Industriegebäude: Alles in einem fast identischen Stil - der so auch in Manschester stehen könnte.

Allerspätestens mit dem Ende der sozialistischen Zeit in Polen und der Wende 1989 war dann aber wohl auch weitgehend Schluss mit der machtvollen Textilindustrie in Łódź. Fast so schnell, wie sie aufblühte, ging die Textilindustrie in Łódź auch wieder in die Knie. Ein kolossaler Niedergang muss eingesetzt haben. 2004 arbeiteten nur noch knapp 28.000 Personen in Łódź in der Textilindustrie.

Lodz, Zentrales Textilmuseum

In der früheren "Weißen Fabrik" des Industriellen Ludwik Geyer in der ulica Piotrkowska ist heute das "Centralne Muzeum Włókiennictwa w Łodzi", das "Zentrale Textilmuseum", zu finden.

Der schon weiter oben erwähnte Rückgang der Bevölkerung seit der Wende in Polen, immerhin ein Verlust von fast 150.000 Menschen in der Stadt binnen gut 25 Jahren, ist sicherlich ein ähnlicher Einschnitt, wie der damalige rasante Anstieg. Man kann sich allein anhand der Zahlen vorstellen, was für rasante Veränderungen die Stadt durchgemacht haben muss. Eine Stadt - wie durchgeschüttelt.

"Strukturwandel" nennt man es ja heutzutage üblicherweise, wenn irgendwo eine komplette Industrie mehr oder minder total zusammenbricht. Und in Łódź ist man mit diesem Strukturwandel offenkundig noch sehr beschäftigt. Dem Niedergang versucht man, allerdings vielerorts auch mit nicht wenig Erfolg, durch Schaffung einer Sonderwirtschaftszone im Süden der Stadt und angrenzenden Gemeinden zu begegnen.

Es ist heutzutage leicht, dieses ganze Drama im Stadtbild abzulesen - zuweilen wie in einem offenen Buch. Dies kann man schlimm finden. Oder auch tragisch. Oder auch interessant. Letzteres aber wahrscheinlich nur als kurzzeitiger Besucher von Łódź.

Aber nicht nur vielen Gebäuden und Straßenzügen geht es schlecht, auch etliche Menschen sind augenscheinlich arm. Mich erschüttert so etwas immer.

Damit hatte ich so nicht wirklich gerechnet, hier in Łódź. Tags zuvor habe ich in Krakau noch das pralle Leben wahrgenommen - und hier an etlichen Orten jetzt tiefe Depression. So unterschiedlich können die Dinge sein, so nahe beieinander.

Stolz ist man, und das sicherlich zu Recht, nicht nur auf die reiche und erfolgreiche Zeit der Stadt, sondern auch auf die vielfältige Vergangenheit der Stadt. Polen, Russen, Deutsche, Juden, Christen haben hier lange Zeit gemeinsam die Stadt aufgebaut und entwickelt. Und in ihr friedlich nebeneinander gelebt. Toleranz wurde ganz groß geschrieben, hier in Łódź.

Stolz ist man auch, und auch das sicherlich ebenfalls zu Recht, auf die weltbekannt Filmhochschule. Dort werden alle Spielarten des Films gelehrt: Schauspielerei, Regie, Kamera, Fotografie. Łódź ist ohne jeden Zweifel DAS Filmzentrum von Polen. Regisseure wie Roman Polanski, Andrzej Wajda oder Krzysztof Kieślowski haben die "Łódźer Filmschule" durchlaufen - und sind damit weltberühmt geworden.

Als ich an der Filmhochschule vorbei gehe, höre ich aus einem offenen Fenster Ballettunterricht - und dachte nur "AUTSCH"! Die Klänge, die ich höre - Klavier und eine unfassbar strenge Damenstimme - erfüllen jedes vorstellbare Klischee. Gerne hätte ich dort einmal hineingelugt. Offenkundig gibt es dort Schauspielunterricht nach der ganz alten Schule.

Den "Walk of Fame" der Łódźer Filmstars, natürlich in der ulica Piotrkowska, gehe ich auch mal ab - muss allerdings gestehen, dass ich nicht viele der Namen kenne.

Lodz, Walk of Fame

Der Walk of Fame in der ulica Piotrkowska würdigt polnische Größen der Filmindustrie - Łódź ist Zentrum des Films in Polen.

Insgesamt ist die Stadt Łódź sehr reich an Kultur. Zahlreiche Theaterbühnen, etliche Museen (vor allem natürlich das Kinematographie-Museum im früheren Scheibler-Wohnhaus und das Zentrale Textilmuseum), eine große Philharmonie sind ansässig in der Stadt.

Unvermittelt stoße ich auf eine gigantische Baustelle mitten im Stadtzentrum. Dort baut man das "Neue Zentrum" von Łódź. Natürlich ein enormes Shopping-Center, das in direkte Konkurrenz zu der ulica Piotrkowska und auch zum nicht weit entfernten Shopping-Center Manufaktura treten wird. Ob das so gut ist? Braucht man noch mehr Shopping in Łódź? Ob allein Shopping und Dienstleistung den Strukturwandel ausmachen kann?

Wenige Tage, bevor ich dort ankomme, hat immerhin schon ein Planetarium in einem schon freigegebenen Gebäude des "Neuen Zentrums" geöffnet. Man hat sich offenbar noch nicht daran gewöhnt, dass sich dort "normale Leute" unterwegs sind. Jedenfalls werde ich von Sicherheitsleuten sehr auffällig misstrauisch beäugt, als ich mich hier herumtreibe. Da sehe ich dann doch von einem Besuch des Gebäudes lieber ab...

Lodz, Planetarium im neuen Zentrum

Unvermittelt stehe ich im Bereich des "Neuen Zentrums" von Łódź: In diesem modernen Bauwerk ist seit wenigen Tagen ein Planetarium in Betrieb.

Stolz ist man in Łódź außerdem auf die großen Wandmalereien - und wirbt mit ihnen. Nun, nach meinem Dafürhalten könnte es davon noch viel, viel, viel mehr geben in Łódź. Denn graue Hausflächen gibt es im Stadtzentrum etwas abseits der ulica Piotrkowska heute noch reichlich - überreichlich. Viel mehr Wandmalerei würde der Stadt bei dem vielen Grau nur gut tun! Ich tue mich etwas schwer damit, so richtig viele von diesen Kunstwerken zu finden. Immerhin: Die angeblich größte Wandmalerei Europas ist kaum zu verfehlen - und bietet mir mal wieder einen meiner immer wieder geliebten Superlative. Einige solcher Wandmalereien finde ich dann doch noch - aber so richtig reicht das nicht als Werbeträger für die Stadt, finde ich. Aber vielleicht habe ich mich ja auch nur zu dämlich angestellt, und leider ist der Prospekt, den es hierzu gibt, in der Touri-Info gerade vergriffen...

Lodz, größte Wandmalerei Europas

Die (wirklich?) größte Wandmalerei Europas findet man im südlichen Bereich der Fußgängerzone etwas abseits der ulica Piotrkowska - sehr eindrucksvoll.

Zwei persönlichen Tipps meiner Beraterin vom Vormittag für kleine Abstecher gehe ich im Laufe des Tages nach - und es bestätigt sich, dass solche "kleinen Tipps" oft besonders nett sein können. Sowohl das frühlingshafte "Meer an blauen Blüten" hinter der eindrucksvollen Kathedrale "Bazylika archikatedralna św. Stanisława Kostki w Łodzi" ("Stanislaus-Kostka-Kathedrale"), zwischen einigen Unigebäuden, ist nett, wie auch der Hinterhof des Gebäudes Nr. 3 der ulica Piotrkowska: Das gesamte hintere Gebäude "eingepackt" in Fragmente von Spiegeln. Eine ebenso originelle, wie interessante und nette Idee. Beides schöne kleine Tipps zu Orten - die ich ansonsten nicht gefunden hätte.

Lodz, blaues Blütenmeer

Gerade noch rechtzeitig, bevor das Blütenmeer verblüht ist, komme ich durch den Tipp der Tourist-Beraterin in den Park im Unibereich.

 

Zwei Nächte, zwei Tage in Łódź - ein kleines Fazit

So sehr ich Polen und polnische Städte mag - ich muss mir eingestehen, dass ich mich in Łódź nicht wirklich wohl gefühlt habe!

Eine Stadt, der es ganz offenkundig schlechter geht, als ich vermutet habe. Ja - als ich mir vorstellen konnte. All der durchaus sichtbaren Bemühungen zum Trotz ist für mich kaum ein richtiger Aufschwung spürbar gewesen. Förmlich greifbar in Łódź: Glänzende Shopping-Center machen noch keine lebendige, attraktive Stadt!

Eigentlich wird die Stadt noch immer bestimmt von der zentralen, zweifellos eindrucksvollen und tatsächlich prachtvollen ulica Piotrkowska. Das ist wohl schon so, seit Łódź sich so rasant entwickelt hat. Neben Essen und Trinken eignet sich die Meile offenbar auch bestens zum flotten Fahrradfahren - und verliert dadurch etwas von dem "Riesige- Fußgängerzone-Gefühl". Ganz lustig und enorm praktisch sind die Fahrrad-Rikschas auf der ulica Piotrkowska. Schließlich gibt es in dem 1,9 km langen Abschnitt der Fußgängerzone keine öffentlichen Verkehrsmittel.

Ob es wirklich so gut ist, wenn an dem Status dieser Straße von verschiedenen Seiten durch neue Einkaufszentren "genagt" wird? Ich weiß es nicht wirklich zu beurteilen. Andererseits kann eine Stadt mit einer Dreiviertel Millionen Einwohnern ja auch nicht nur auf dem Ruhm einer einzigen Straße und einer glorreichen Vergangenheit fußen!

Es ist im Übrigen wirklich sehr leicht, sich in Łódź zu orientieren, jedenfalls im Stadtzentrum: Nahezu quadratisch angelegt sind die Straßen. Wie auf dem Reißbrett - es hat kein organisches Wachstum um einen kleinen, historischen Kern herum gegeben. So systematisch erbaute Städte sehe ich nicht allzu oft. Und es spricht natürlich für diese Planung und die Stadt, dass man Parks angelegt hat, überraschend viele Parks. Bei meinem besuch Anfang April stehen diese natürlich noch nicht in vollem Grün, in voller Pracht. Schade!

Lodz, Ein Pavillon im Park Jana Kilinskiego

Ein Pavillon im Park Jana Kilinskiego.

Nicht nur in den Parks, auch ansonsten stoße ich in der Stadt immer wieder auf Orte, die mein Herz durchaus aufgehen lassen - nein, es ist keineswegs alles nur trostlos in Łódź. Oder ich stoße auf Orte, die einfach meine Neugierde wecken. Es beschleicht mich das Gefühl, dass es durchaus so Einiges zu entdecken gibt in der Stadt. Aber: Dafür reicht meine Zeit nicht, Łódź ist einfach zu groß. Und dafür bräuchte ich zudem eine genauere Anleitung.

Als ich Łódź dann verlassen muss, um weiter nach Katowice zu reisen, bin ich allerdings zugegebenermaßen gar nicht so böse darum. Auch, wenn ich ja nur einen relativ kleinen Bereich der Innenstadt von Łódź kennengelernt habe: Der "Wohlfühlfaktor" der Stadt hält sich für mich in übersichtlichen Grenzen. In den äußeren Stadtbereichen gibt es offenbar einige architektonisch durchaus interessante Projekte. Aber davon habe ich nichts gesehen, auch dafür ist die Stadt viel zu groß bei einen Zwei-Tages-Aufenthalt. Und es ist durchaus auch so, dass mir einiges Gesehenes durchaus aufs Gemüt gedrückt hat. Daran ist das Wetter sicherlich nicht Schuld, das für Anfang April kaum besser hätte sein können.

Und doch: Interessant ist Łódź! Ohne Zweifel! Ganz bestimmt nicht für die "Normal-Touristen", die Sehenswürdigkeiten abklappern - aber sicherlich für Leute, die sich beispielsweise für Stadtentwicklung oder Industriegeschichte interessieren. Für diese ist Łódź sicherlich ein Eldorado, hat in der Tat ungeheuer viel zu bieten. Wie schon erwähnt: An vielen Orten der Stadt kann man wie in einem offenen Buch in der Stadtvergangenheit lesen. Leider jedoch fehlen mir bei meinen Gängen durch die Stadt immer wieder weitere Informationen. Über einiges Gesehenes hätte ich gerne mehr erfahren. Ob es spezielle Führungen oder Local Guides zu solchen Themen in der Stadt gibt, ist mir nicht bekannt.

Interessant ist Łódź sicherlich auch und gerade darum, weil man hier alles sehr markant beobachten kann: Man kann den noch nicht soo lange zurückliegenden, gewaltigen Aufstieg der Stadt zur Industriemetropole noch sehen. Das offenbar ganz gute Leben als europäische Industriemetropole ist sichtbar, aber auch vor allem der dramatische Niedergang und der jetzige Versuch, das Steuer herum zu reißen - all das steht in Łódź oftmals direkt nebeneinander. Kurz: Industriegeschichte ist hier sicht- und greifbar und Teil der Gegenwart.

Und das hat ja durchaus auch etwas sehr Faszinierendes!

 

Zu meiner externen Bilderserie mit 68 anderen, großformatigen Bildern von dem Aufenthalt in Łódź geht es hier:

Bilder Fotos Lodz Lodsch

April 2016
externe Bilderserie:
Sammlung mit 68 großformatigen Fotos aus Łódź / Lodz (Polen)
(externe Seite, neues Fenster)

 

 

 

 

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Dirk Matzen

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